Dichotopie. Refiguration von Räumen in Zeiten der Pandemie
Hubert Knoblauch und Martina Löw nutzen das Konzept der Refiguration, um kommunikatives Handeln in Zeiten einer Corona-Pandemie in den Blick zu nehmen. Von der Isolation im Containerraum der Wohnung über die Intensivierung digitaler Vernetzung bis zur globalen Zirkulation des Virus: Die Krise ist räumlich. Mit diesem kurzen Blog-Beitrag rufen sie zur Diskussion über Analysen und Diagnosen auf.
Seit der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 bzw. der Corona-Pandemie überschlagen sich die Ereignisse, eine Hiobsbotschaft und Regierungsmaßnahme folgt der nächsten; die Gesellschaft verändert sich mit ihnen ebenso rasant, so dass wir vorübergehend in einer neuen gesellschaftlichen Not-Ordnung zu leben scheinen, die womöglich zur Neu-Ordnung der Gesellschaft führt. Die Maßnahmen der Regierung(en) sind vielfach einsichtig, wir folgen ihnen als gute Staatsbürger*innen und üben uns in der neuen Solidarität etwa mit einer Blutspende. Was machen wir aber aus den Ereignissen aus der Perspektive der Soziologie? Können wir mehr tun, als die positiven Seiten der Coronakrise als eine Entschleunigung hervorzuheben, sie als bloßes Zeichen der De-Globalisierung zu lesen oder die Notwendigkeit zur Solidarität betonen?
Wir wollen mit diesem Blogbeitrag eine Diskussion unter den sozial- und raumwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen darüber anstoßen, wie die aktuellen Entwicklungen zu interpretieren sind. (Eine etwas ausführlichere Analyse bietet der in den nächsten Tagen erscheinende längere englische Blog-Text, der zur internationalen Debatte anregen und beitragen soll.) Das schließt eine soziologische Diagnose ein, die die derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen und deren mögliche Folgen einzuordnen versucht. Ein Blog eines Sonderforschungsbereichs zum Thema „Re-Figuration von Räumen“ drängt sich für eine solche Diagnose geradezu auf. Denn was immer gerade geschieht, hat so dramatisch mit Raum und Refiguration zu tun, dass wir zumindest um diese Diagnose nicht herumkommen. Wir beobachten eine globale Epidemie, die sich auf den Spuren der Menschen von China aus über den gesamten Erdball zieht und dabei tragische Verdichtungen produziert, wie etwa in Norditalien/Bergamo, Heinsberg oder Madrid; zugleich beobachten wir eine ebenso dramatische und ungewöhnliche, wir sollten sagen, seit langem ungewohnte Reaktion der (meisten) Staaten, nämlich eine Schließung der Grenzen und die ‚Heim‘holung der ‚eigenen‘ Bevölkerung.
In einem mehr als offenkundigen Sinne zeigt das Virus nicht nur die grundlegende Relationalität des Sozialen auf, macht die (wie unsichtbar auch immer) Materialität des sozialen Handelns deutlich, die selbst das Atmen nun zur Kommunikation machen kann. Aber die Corona-Krise ist nicht nur eine Krise der zwischenmenschlichen Sozialität, die nun eine neue körperliche Distanz findet, neue Interaktionsrituale schafft und, zunächst, das Kollektive, Gruppen und Events meiden lässt. Auf der Mikroebene unterstreicht das Virus so, dass Sozialität eine grundlegende relationale, materielle und räumliche Dimension hat. Sie kann in jede einzelne verkörperte Interaktion als unsichtbares, aber folgenschweres Objekt eingehen. So ‚kontaminieren‘ soziale Interaktionen nicht nur den sozialen Raum zwischen den Akteuren, sie sollen auch in Form von „social distancing“ neu konventionalisiert und ritualisiert werden. Weil das offenbar schwer zu gewährleisten ist, verlangen neue Gesetze verkörperte Interaktionen auf die Privatsphäre im räumlich konkretesten Sinne zu reduzieren: auf die kleinsten Interaktions-Einheiten von Individuen, Paaren oder Familien in einzelnen Haushalten und privaten Räumen.
So kleingliedrig das Soziale nun räumlich begrenzt ist, so wird zugleich deutlich, dass alle diese zwischenmenschlichen Begegnungen eine globale Dimension annehmen. Die soziale Dimension der Pandemie ist damit nicht nur von Grund auf räumlich. In der Spannung zwischen globaler Verbreitung und nationaler Schließung macht sie überdies wie unter einem Brennglas eine für die spätmoderne Gesellschaft typische Spannung deutlich. Man kann sogar sagen, die Krise treibt diese Spannung auf die Spitze und damit das, was wir im Rahmen des SFB 1265 als die Re-Figuration von Räumen bezeichnen. Denn die Refiguration resultiert aus der Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Raumlogiken, auf die wir mit dem Begriff der Dichotopie anspielen. Zum einen erfolgt eine territoriale Schließung. Körper, Wohnräume und Länder werden zu Containern, die das Virus enthalten oder sich dagegen abschließen. Zum anderen beobachten wir die globale Verbreitung der mit dem Virus infizierten Körper, die grenzenlos zu sein scheint sowie die sich durch die Schließungen physikalischer Räume immer intensiver verdichtende digitale Mediatisierung und Öffnung der Kommunikationsnetzwerke. Auf der einen Seite steht die globale Erfassung der Pandemie-Daten, die übergreifende wissenschaftliche Forschung und die breite mediale Berichterstattung, die globalen Märkte und die vermutlich globale Rezession und auf der anderen Seite die Verstaatlichung medizinisch ‚systemrelevanter‘ Produktion, die Einhegung von Risikozonen, die Quarantäne. Es ist diese Spannung zwischen den zwei grundlegenden Raumlogiken, die sich etwa in der Figuration des zentralistischen Territorialstaates einerseits und einer entgrenzten Globalisierung andererseits, in der scharfen Top-down-Hierarchie und logisch-begrifflicher Analyse hier und der flachen Netzwerkbildung oder dem Rhizom sowie den ontologischen Metaphern dort ausdrückt. Territorialräume folgen einer Logik des Platzierens und Arrangierens, der zufolge klare Grenzen nach außen gezogen werden und eine Beschränkung der Diversität nach innen akzeptiert wird. Sie werden in der Regel als statisch wahrgenommen. Dagegen folgen Netzwerkräume einer Logik der Relationierung des Heterogenen. In Netzwerkräumen können distante Elemente in Beziehung gesetzt werden und die Differenz der Elemente ist ein wesentliches Kennzeichen der Netzwerkräume.
Die dichotope Spannung zwischen Territorial- und Netzwerklogik, zwischen Hierarchie und Heterarchie, zwischen Begrenzung und Entgrenzung, sogar zwischen Homogenität und Heterogenität stellt sich durch die Viruspandemie in besonderer Schärfe ein. Wir haben es auf der einen Seite mit einer sich weltweit über immer mehr Regionen erstreckenden und damit alle Grenzen überschreitenden Seuche zu tun, wobei nicht einmal klar definierbar ist, wie sehr sie sich denn (für die meisten) überhaupt von einer Grippe unterscheidet. Auf der anderen Seite ist sie eine tödliche Gefahr oder zumindest ein lebensgefährliches Risiko für viele, das eine Infektion und Erkrankung zu einem elendigen Tod durch Ersticken führen kann. Es ist dieser elende Tod, der das Gesundheitssystem überfordern kann, der vielen Angst macht und die Regierung zu energischem Handeln aufruft.
Das Virus ist ein globales Risiko. Mit den Siebenmeilenstiefeln der Reisenden und anderen Zirkulationen von Menschen zieht es seinen Weg über die Erdenkruste und verdichtet sich u.a. dort, wo die Menschen große Freude hatten: am Essen aus der Tiefsee in Wuhan, beim Skifahren in Ischgl oder beim Feiern in der Berliner „Trompete“. Es scheint zunächst merkwürdig, dass gerade diese globale Ausdehnung nicht mit einer globalen Reaktion beantwortet wird, sondern mit einer Form der Grenzschließung, die nirgendwo mehr auffallen muss als in Europa (und, nebenbei, im föderalen Deutschland). Nicht nur werden die schon lange nicht mehr befestigten Grenzen wieder geschlossen, und zwar, wie zwischen Frankreich und Deutschland, zuweilen ohne jede Absprache (was sich bis in die oberrheinischen Supermärkte auswirkte); ja mehr noch, das Territorium wird so geschlossen, dass nun auch in einmaligen Rückholaktionen die Staatsbürger*innen in das je eigene Land ‚heim‘geholt werden.
In der Krise treffen die physikalisch begrenzten Territorien des Selbst von Menschen, die sich mehr und mehr auf den Nahraum zurückziehen und zurückziehen müssen, nun auf die entgrenzte und körperfreie Vernetzung der Kommunikation (sowie auf eine ebenso entgrenzte Zirkulation des Virus) in einer Weise, dass eine geradezu radikalisierte Spannung dieser sich widersprechender Logiken durchgreifend prägend wirkt. In der Tat haben wir damit auch eine der wesentlichen Dynamiken für die Refiguration der Räume angesprochen, stellt sich doch gerade die digitale Mediatisierung der räumlichen Einschließung entgegen. Wer sich nicht von Angesicht zu Angesicht treffen kann, organisiert sich per Videotelefonie. Wer nicht mehr im Büro arbeiten kann, geht ins Homeoffice, und wer nicht ins Restaurant gehen kann, bestellt sich etwas bei den digitalen Bringdiensten und hofft, dass die Pakete so sauber sind wie das Internet. In der Not-Ordnung wird der digitale Raum zur Kompensation der Präsenzöffentlichkeit. Hier spielt die Musik, treffen sich die Gruppen, wird der Kinofilm übertragen. Er übernimmt ersatzweise aber auch die anderen Funktionen der Gesellschaft: Universitäten und Schulen sollen ebenso weitgehend auf die digitale Kommunikation umgebaut werden wie die öffentliche Verwaltung. Das Homeoffice erlaubt einem großen Teil von Betrieben, Vereinen oder anderen Organisationen ihren Aufgaben mit digitalen Kommunikationstechnologien gerecht zu werden. Internet, E-Mails und Videokonferenzen halten uns in den internationalen Kreisen, erlauben das Aufpoppen von Initiativen, alten Blasen und neuen Ritualen. Soweit es sich bisher einschätzen lässt, macht aber die digitale Mediatisierung auch ihre Grenzen deutlich: wie schal, holprig und formal fühlen sich selbst die freundschaftlichen Skypesitzungen an, wie wenig erwärmend der letzte Tweet und wie trostlos das Telefongespräch mit der Verwandten, die an Krebs stirbt, aber nicht besucht werden darf.
Schon jetzt deutet sich an, dass die Strategie das Risiko einer Virusinfektion für viele Menschen eindämmen kann, aber auch die Grenzen einer geradezu banalen Raumpolitik offensichtlich werden lässt. Wie schwer ist es zu ertragen, dass in Nachbarländern Menschen sterben, obwohl im eigenen Land noch Intensivpflege-Krankenbetten freistehen? Wie unbarmherzig ist der Pflegenotstand, war doch die häusliche Pflege auf die Migration von Pflegekräften angewiesen? Auch die sich schon jetzt abzeichnende deutliche Verstärkung einer digitalisierten Mediatisierung bleibt ambivalent. Wir müssen abwarten, wie effektiv die Informationspolitik der Regierung war und welche Rolle die sich allmählich ausbreitenden Verschwörungstheorien spielen. Und natürlich wissen wir auch schon lange, dass die digitalen Vernetzungen insgesamt keineswegs flach bleiben, sondern Folgen haben werden: Abgesehen davon, dass wir selbst bei der Telearbeit von bestehenden universitären Infrastrukturen profitieren, sind globale Unternehmen wie DHL, Amazon & Co. die Nutznießer dieser Entwicklung, was schon einen Schatten vorauswirft auf das, was sich da – alles im Raum – noch zusätzlich refiguriert: Das Wissen um das Virus könnte das soziale Verständnis von körperlicher Nähe längerfristig verändern, die seit Jahrzehnten anhaltende Informalisierung des körperlichen Umgangs beenden und das Soziale über alle Skalen hinweg von der bloßen Wahrnehmung des Atmens bzw. Hustens anderer über die städtischen Geschäfte und die öffentlichen Ereignisse bis hin zur Existenz der Europäischen Union, des Euro und der internationalen ‚Weltordnung‘ wandeln.
Verwundbarkeit und Todesangst, Isolation und Quarantäne sind Krisenerfahrungen – Krankheit und Sterben sind schweres individuelles und kollektives Unglück. Doch auch der drohende Umbau des Sozialen gehört zur Krisenerfahrung. Wir hoffen alle, dass die Not-Ordnung nicht sehr lange und schon gar nicht dauerhaft bleiben wird. Aber, auch wenn wir wieder Präsenzöffentlichkeiten bilden werden, so macht doch die Zuspitzung der Corona-Krise die spannungsvolle Dynamik der Refiguration überaus deutlich. Sie wird uns gerade deshalb weiter beschäftigen, weil sie durch Corona zwar sichtbarer wird, aber mit Corona nicht verschwinden muss.
Dass Krisen Chancen beinhalten, ist eine alte psychotherapeutische Weisheit. Auch die Refiguration ist keineswegs nur ein schicksalhafter Prozess, sondern basiert auch und immer auf Handlungen und schafft damit auch Chancen. Vielleicht werden in Europa und rund um den Globus einige dieser Chancen genutzt? Vielleicht verlieren rechtsradikale Parteien nicht nur kurzfristig, sondern langfristig Wählergruppen? Vielleicht werden Geflüchtete in der Krise vertrauter? Vielleicht handeln wir langfristig ökologischer? Doch sind die Herausforderungen ebenso offensichtlich. Einen Impfstoff gegen das Virus werden wir voraussichtlich erst nächstes Jahr bekommen. Wie impfen wir uns jedoch dagegen, dass öffentliche Räume auf Dauer kontaminiert erscheinen? Wie stellen wir uns auf, damit Staatsbürgerrechte nicht langfristig eingeschränkt werden? Und wie gelingt es uns, einander entgegenstehende räumliche Logiken nicht nur als Widersacher und als unterkomplexe Platzhalter für Sicherheit (Territorium) versus Freiheit (Netzwerk) oder für Isolation (Territorium) versus ungebremste, globale Zirkulation (Netzwerk) zu begreifen? Was können wir aus der sozialwissenschaftlichen Raumforschung durch weitere Analysen und Diagnosen im Rahmen liberaler demokratischer Gesellschaften beitragen, um die Bewältigung der Corona-Krise zu erleichtern sowie soziale Polarisierungen und Schäden für die offenen Gesellschaften abzuwenden? Wie können wir etwa Formen sozialer Distanzierung gestalten, die nach der hoffentlich kurzen Phase harter Isolierungsmaßnahmen neue Qualitäten im öffentlichen Raum ermöglichen?
Über Reflexionen hierzu freuen wir uns im Blog ebenso wie über Beobachtungen aus dem Leben in der Corona-Krise und Beispiele für gelingende und misslingende Raumaneignungen, Reflexionen und Forschungsbedingungen in Zeiten von Corona, autoethnographische Experimente, Berichte von anderen Orten und aus anderen Perspektiven.