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„Es ist meine Aufgabe, ebenso Dinge von mir preiszugeben“

21. August 2023

„Mich beschäftigt mein kommender Feldaufenthalt in Korea sehr stark – und die Frage, wie ich dort als junge, wissenschaftlich arbeitende Frau aus Deutschland in einer ländlichen Gesellschaft aufgenommen werde. Noch dazu als Person, die zwar so aussieht, als würde sie dazugehören, aber nicht so spricht, da ich ja sehr früh nach Deutschland migriert bin. Ein Sicherheitsnetz gibt es jedoch: Eine südkoreanische Studentin wird mich begleiten und darauf achten, dass ich möglichst nicht in Fettnäpfchen trete und mich auch sprachlich unterstützen. Trotzdem mache ich mir Gedanken darüber, dass die Menschen mir äußerst zurückhaltend begegnen könnten.

Einerseits versuche ich deshalb, meinen Aufenthalt zu antizipieren – und mich so gut es eben geht auf das einzustellen, was mich dort erwarten könnte. Ich denke dabei nicht allein an den Kontakt zu den Einwohner:innen, sondern zum Beispiel auch an Faktoren wie die geografischen Bedingungen oder das Wetter, die mir zu schaffen machen könnten. Ich werde während der Monsunzeit dort sein, und ich vermute, dass mir die Regenfluten zu schaffen machen werden. Andererseits denke ich oft an meinen ersten Feldaufenthalt in Chile zurück – und rufe mir in Erinnerung, worauf ich dort achten musste und was davon ich im Hinterkopf behalten sollte.

Mein Aufenthalt in Chile war insofern völlig anders, als ich das Land zuvor noch nie besucht und eigens die Sprache gelernt hatte, um Zugang zu finden. Eine sehr wichtige Erfahrung, die ich dort gemacht habe und nun nach Korea mitnehmen werde, ist die Bedeutung alltäglicher, unspektakulärer Gespräche. Da ich in ländlichen Räumen forsche, sind die Orte sehr klein; oft bin ich denselben Leuten mehrmals am Tag über den Weg gelaufen. Umso wichtiger war es deshalb, mich nicht wegzuducken, sondern mit ihnen zu reden – und dabei auch über mich zu reden. Denn die Menschen lassen mich nah an sich heran; sie öffnen mir ihre Gärten und Häuser, geben mir Einblick in ihre Gedanken und Gefühle. Damit dieses Ungleichgewicht zwischen uns nicht zu groß wird, ist es meine Aufgabe, ebenso Dinge von mir preiszugeben, auch wenn das potenziell Ablehnung bedeuten könnte.

Zugleich denke ich darüber nach, wie sehr meine Forschung von meiner eigenen Perspektive geprägt wird. Ich komme aus einem Walddorf im Saarland und bin also in selbst in einem jener „peripherisierten ländlichen Räume“ groß geworden, die wir nun untersuchen. Mal abgesehen davon, dass ich solch ein hochgestochenes Wort wie „peripherisiert“ im Feld nie benutzen würde, frage ich mich, wie sehr mein biografischer Blickwinkel meine Arbeit und Befunde beeinflussen wird – und wie es mir gelingt, das immer wieder zu hinterfragen.

Sicher wird mir das ländliche Korea sehr still und wohl auch isoliert vorkommen. Aber in unserer Forschung geht es darum, nicht in diesem binären Denken – dort ist das Zentrum, hier die Peripherie – zu verharren, sondern herauszufinden, wie die Menschen vor Ort ihre Situation eigentlich wahrnehmen und beschreiben. Es ist denkbar, dass sie sich in Attributen wie ,abgeschieden‘ oder ,entlegen‘ gar nicht wiederfinden, weil das nicht ihrem Lebensgefühl entspricht. Zudem beschreibt ,peripherisiert’ ja einen Prozess, der im Fluss ist; Orte können natürlich auch wieder entperipherisiert werden. Genau solche Veränderungen sind es, die uns interessieren: Was passiert mit Räumen, wenn sich ihre Perspektive der Abgelegenheit wandelt, zum Beispiel, weil dort Straßen ausgebaut oder Glasfaserkabel verlegt werden?

In Chile konnte ich feststellen, wie stark etwa die Digitalisierung den Tourismus vorantreibt – und damit die Kommodifizierung des Raums, der nun als Szenerie und Erholungsort verkauft wird. Das Bergdorf, in dem ich geforscht habe, lebte einst von der Forstwirtschaft. Heute ist es von einem riesigen Naturreservat umschlossen, in das die Tourist:innen strömen; auch deshalb, weil der Ort über digitale Plattformen wie AirBnB vermarktet wird. Dieser Wandel hat das Leben des gesamten Dorfes auf den Kopf gestellt, im Guten wie im Schlechten.

Viele Frauen sind zum Beispiel plötzlich unabhängiger, weil sie selbst Geld verdienen können; etwa, indem sie Unterkünfte vermieten. Andere Bewohner:innen leiden dagegen unter dem krassen Identitätsbruch und wollen ihre alte Holzfabrik zum Museum umfunktionieren, um wenigstens einen Teil des lokalen Erbes zu bewahren. Und nahezu alle haben Angst vor der drohenden Zerstörung der Natur und der Endlichkeit der Ressourcen. Wasser war dort schon immer knapp, aber wirklich problematisch wurde es, als Tourist:innen kamen und jeden Tag eine halbe Stunde lang duschen wollten. Seither ringen die Bewohner:innen darum, den Verbrauch zu senken, ohne den Besucher:innen-Boom zu ersticken. Diese Entwicklungen und Konflikte zeigen aus meiner Sicht, dass vor allem die Menschen vor Ort und lokale Bedingungen entscheiden, wie ‚peripherisiert‘ ihr Ort ist und wie das konkret im Alltag verhandelt wird.

Oft denke ich mir, dass ich diese Interviews auch hierzulande gerne führen würde; sei es im Saarland oder in Thüringen, wo ich studiert habe. Von außen heißt es über solche Regionen häufig, dass sie aufgrund ihrer vermeintliche Abgelegenheit in eine ,ländliche Abwärtsspirale‘ rutschen: Arbeitsplätze brechen weg, Menschen ziehen in Scharen fort, Schulen, Arztpraxen und Supermärkte schließen, Busse und Bahnhöfe verschwinden, Dörfer veröden und erleben einen Rechtsruck. Ich wüsste gern, was diese Peripherisierung eigentlich von der anderen Richtung her bedeutet, also aus der Perspektive der Menschen vor Ort – und was diese davon halten.

Jae-Young Lee ist Doktorandin am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) und an der TU Berlin und arbeitet am Teilprojekt „Peripherisierte ländliche Räume: Digitalisierung und Raumkonstruktionen“.

Céline Lauer ist Stadtanthropologin und Wissenschaftsredakteurin bei WELT/WELT am Sonntag. Im Juni 2023 war sie als Journalist in Residence zu Gast am SFB 1265.

Zum Weiterlesen

Manuschevich, Daniela; Gurr, Mel und Ramirez-Pascualli, Carlos A. 2020. „Nostalgia por La Montaña: The Production of Landscape at the Frontier of Chilean Commercial Forestry“. Journal of Rural Studies 80 (Dezember): 211–21. https://doi.org/10.1016/j.jrurstud.2020.09.010.

Pavez, Isabel; Correa, Teresa und Contreras, Javier. 2017. „Meanings of (Dis)Connection: Exploring Non-Users in Isolated Rural Communities with Internet Access Infrastructure“. Poetics 63 (August): 11–21. https://doi.org/10.1016/j.poetic.2017.06.001.