Hommage & Abriss. New York Aphorismen
Martin Schinagl reflektiert im Nachgang seiner Feldforschung über Stadtplanung in New York City über eine Stadt der Widersprüche und Extreme sowie ihre Entwicklungen aus Perspektive eines forschenden Flâneurs: „Läufst du durch New York, siehst du die Welt. …“
Läufst du durch New York, siehst du die Welt. Riechst du die Welt. Alles ist in ihr. Königin der Städte, als solche erscheint sie mir. In ihr spiegeln sich die Städte der Welt. Ihr feines Mosaik setzt sich zusammen aus Straßenzügen, Ecken, Gerüchen und Atmosphären, Sprachen und Akzenten, Produkten. Belebt durch die Biografien ihrer Bewohnerinnen und Gäste gibt sie der Welt ein Gesicht, hier findet sie sich ein. Aus dieser New Yorker Anordnung von Punkten formt sich das für sie so typisch heterogene Gesicht, mit ihren edlen und derben Zügen. Die äußerlichen, baulichen Charaktere der Bezirke und Nachbarschaften erzählen zuallererst die Geschichte einer von anhaltender Einwanderung und industriellen und postindustriellen Brüchen geprägten Stadt des 20. Jahrhunderts. Dieses Narrativ ist baulich und kulturell dominant. Dabei unterscheiden sich die darin sich entfaltenden Atmosphären, als lägen Ozeane zwischen ihnen. Denn auch wenn tatsächlich nur wenige Metrostationen zwischen manchen Orten liegen, trennen sie Welten und die sichtbaren und unsichtbaren Mauern. Die Stadt macht viel mit dir und ihren Bewohnerinnen: Sie umgarnt dich, saugt dich auf, macht rasend, orientierungslos und neurotisch. New Yorker Luft, das sind die Chemikalien der Nagelstudios, die Luft aus den U-Bahn-Schächten, die sich an den oberirdischen Eingängen mit jener gebrannter Maronen mischt. Der Raum des Duftes ist markiert vom Fett der Egg-and-Cheese-Sandwiches, dem Wasser des Hudson Rivers, Marihuana, von gedrängten Menschen mit den Gerüchen der Parfümerien oder denen der Straße. Hinzu tritt das Summen der Sprachen, die Oktaven und verschiedensten Einschläge des Englischs und die sozialen und migrantischen Hintergründe ihrer Sprecherinnen. Die New Yorker Ohren sind geübt und erkennen auffallend sofort, dass ich kein Native Speaker bin.
Die Orte entfalten ihre eigenen Geschwindigkeiten, die sich in die Passantinnen körperlich, rhythmisch übertragen. Wie durch eine Eigenlogik qua physikalischer Gesetze wirken und regulieren Status und Ort die Schrittfrequenzen. In Manhattan bin ich zu langsam, stets hinke ich den Prognosen, die mir Google Maps basierend auf den massenhaft abgefragten lokalen Standort- und Bewegungsdaten als Zeiten für meine Laufwege vorhersagt, hinterher. In Berlin passiert mir das nie. Der Rückschluss ist: In Manhattan läuft man schneller, ganz objektiv. Hier hastet man kollektiv und rastet vereinzelt, stets nur im Gehen. Sie essen an den Gleisen und auf den Trottoirs im Zwischen-den-Terminen. Einmal, ich war auf dem Weg von der Wallstreet Richtung One World Trade Center, blieb ich auf dem Bürgersteig stehen, trotzig. Ich zwang mich, kurz inne zu halten. Ich ließ die Menschen an mir vorbeiziehen und hielt zurück, auch noch an sie zu appellieren: Bleibt stehen! Entspannt euch! Atmet langsamer! Das ist Manhattan, der Ort des Arbeitens, des Kapitals, eines Lebens der hustler und go-getter.
Andernorts sitzen Menschen auch mal auf den Treppen vor ihren Häusern, plaudern, spaßen rum und würdigen selbst den wummernden Autos, die von ihren männlichen Besitzern stolz und laut spazieren gefahren werden, nicht einen Blick. In diesen Orten, verstreut irgendwo in Queens, Brooklyn und der Bronx, wo der Himmel über den Broadways von den imposanten Stahlkolossen der Metros verdeckt ist, erhallt ein Donnern der Waggons in knappen Abständen. Hier atmen die Leute. Sie ruhen. In den kleinen Straßen, die von den himmellosen Donnerstraßen abgehen, bewegen sie sich teils wie sediert nicht vom Fleck. Es wirkt erzwungen und zugleich wie befreit von der Hast des absoluten Zentrums.
Dort, im Zentrum, scheint es, als würden sie alle hübsch und groß geboren. Sie wissen sich zu kleiden und trainieren sich elegante Körper an. Lower Manhattan, Midtown, diese und ähnliche Ecken: Eine Ansammlung hochgewachsener schlanker Menschen mit einer wie abgezählten und fein arrangierten Komposition verschiedener Herkünfte.
Andernorts: Die Menschen sind kleiner, fetter, dunkler, faltiger. Der soziale Status, die Klasse, Rassismus und der Wohnort schreiben sich in diese Körper und den Umgang ihrer Besitzer mit ihnen ein. Diese Stadt malträtiert ihre Bewohner.
Peripherien des Zentrums
Ich bin in Manhattan und will dringend neue Schuhe kaufen, wo sich meine alten im Regen aufzulösen drohen. Ich flüchte in einen Sneaker-Laden nahe Union Square. Die Wände sind randvoll mit Turnschuhen bestückt. Die Preise an den Sohlen der Schuhe irritieren, da sie nur Preispannen angeben: $300-$450, $720-$900. Ich verstehe nicht. Zudem: Wieso auch so teuer? Dann wieder sind, abgetrennt und hervorgehoben, in einer Glasvitrine die teureren Schuhe mit eindeutigen Preisen ausgestattet: Das teuerste und nicht sonderlich schöne Paar, das ich ausfindig machen konnte, kostet $40.000.
Kontext: Ein paar Metrostationen mit der 4, 5
oder 6 Richtung Norden in der Bronx verdient ein Haushalt durchschnittlich
$37.000 im Jahr.
Ungleichheit: Mehr als 60% der New Yorker leben in Armut oder in prekären
Verhältnissen nahe der Armutsgrenze. Zugleich ist die Stadt das Zuhause für
eine knappe Million Millionäre, also fast so viele Menschen, wie innerhalb des
Berliner S-Bahn-Rings leben.
Extreme: Man muss nicht befürchten, dass die Art Menschen, die sich diese
Schuhe leisten können und jene, die dies nicht können, viel von ihrem Alltag
miteinander zu teilen haben. Denn fährt man die besagte Metrolinie, dann
tauschen sich alle Passagiere und mit ihnen ihre soziale Herkunft wie auch
Hautfarbe auf der Höhe von Harlem – quasi das Zwischenland zwischen Manhattan und
der Bronx – komplett aus. Wohnt man doch mal im gleichen Gebäude, ist das
Revival der „poor door“ in der New Yorker Gebäudearchitektur ein Ausdruck gebauten
Distinktionsbedürfnisses.
Aber bleiben wir bei der U-Bahn. Sie ist ein zu Infrastruktur geronnenes Abbild der New Yorker Gesellschaftsstruktur, ebenso wie es diese Struktur verfestigt und aufrechterhält. Das System des New Yorker ÖPNV ist so komplex und belastungsfähig, dass es auf der Welt seinesgleichen sucht. Zugleich ist es langsam, es marodiert und ist ungerecht, eben auch weil es Teil der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur ist und damit Sache des Staates, der nur über beschränkte Autorität und finanzielle Mittel verfügt. Und so erklärt sich das Paradoxon, wirkt das Metrosystem wie ein Relikt besserer Tage und zugleich wie herausgefallen aus der heutigen Zeit, wo oberirdisch immer höhere leuchtende Türme gebaut werden.
Aufgabe: Betrachte die Linien und Stränge der Metros auf dem Plan. Ein buntes Netz, verwoben und raumgreifend, konzentriert und engmaschig auf der Insel Manhattans, ausfransend an den Enden der angrenzenden Bezirke.
Alle (!) Wege führen nach und durch Manhattan. Hingegen sind all die Verbindungen zwischen den anderen Boroughs oder selbst innerhalb dieser teils irre kompliziert und mit unökonomisch langen Fahrtzeiten verbunden. Die Karte der U-Bahnen verrät es: Die Arbeiter sollen zur Arbeit und wieder zurück zu ihrer Schlafstätte. Die Struktur scheint zu sprechen: Einen Grund sich zwischen anderen Bezirken zu bewegen, kann es nicht geben. In dieser zentralisierenden Anordnung bildet Manhattan das Herz des Organismus New Yorks. Hier ist das Geschäft, die Arbeit und das Kapital und dieses Herz muss versorgt werden mit den Menschen aus den umliegenden Gebieten. Die Stadt als Organismus mit ihrem Herzen, ihren Lungen, Adern und Organen. Das ist eine falsche Metapher für eine Stadt. Aber diese Metapher hat sich infrastrukturell durchgesetzt.
Nach der Gentrifizierung
Über das 20. Jahrhundert legt sich das neue Jahrtausend. Die Stadt ist ihren europäischen Pendants (London, Paris, Madrid) schon immer ein Stück voraus. Ihnen gleicht, dass man von der Substanz zehrt, die sie während der Renaissance der Städte so attraktiv gemacht hatte. Im Finanzzentrum der Welt konzentriert sich das Kapital nochmal stärker als anderswo und sucht sich seine Anlagen in Form gebauter Umwelt. Seit einigen Jahren übersetzt sich dieser Trend in die dünnen Wohnhochhäuser, die wie Finger in die Lüfte ragen. Sie überragen dabei auch immer öfter die höchsten Bürohochhäuser. Das Gesicht der Stadt bekommt einen neuen Zug, eine neue Silhouette nach 2001 und 2008. Terror und Krise als globale, amerikanische und vor allem auch New Yorker Zäsuren. Hier geht es nicht um technologischen Fortschritt der Bauindustrie. Die Technologie, solche Wohnwolkenkratzer zu bauen, gibt es schon seit Jahrzehnten. Aber über eine bestimmte Höhe hinaus Apartmentgebäude zu bauen, hatte sich zuvor schlichtweg nicht rentiert. Jetzt jedoch, da das Kapital sucht und endlich findet, ist auch diese Schallmauer gebrochen und so bahnen sich die Gebäude mit Zuhilfenahme von mechanical voids (mechanischer Hohlraum) ihren Weg nach oben. Mechanical voids sind quasi leere, also im weiteren Sinne ungenutzte Etagen und Flächen, die helfen, das Gebäude höher zu bauen, ohne dass dies auf das Konto der erlaubten maximalen Geschossflächenzahl geht. Hat man sich erst mal die Air Rights – das sind die nicht ausgeschöpften Gebäudehöhen umliegender Gebäude, die ihnen laut Plan zustünden – durch Ankauf gesichert und mit ein paar mechanical voids noch ein paar Meter in die Höhe gebaut, ergeben sich mit dem Blick über die gesamte Stadt wunderbare Argumente für einen entsprechenden Kaufpreis. Es sind Regeln wie in einem Gesellschaftsspiel, wo an dessen Ende jemand dann alles gewinnt, wenn alle anderen verlieren. Die bisher teuerste Wohnung wurde 2019 für $238 Millionen gekauft. Nirgendwo sonst auf der Welt konzentriert sich Kapital so sehr wie in New York. Dabei werden Menschen verdrängt und ältere soziale Strukturen zerstört. Gut, das ist Gentrifizierung und altbekannt. Aber Manhattan, wo Apartments zu Kapitalanlagen werden, zeigt, was nach der Gentrifizierung kommt. Zu großen Teilen bleiben die Wohnungen unbewohnt, denn die Wohntürme sind nicht für Menschen gemacht.
Es regieren – durch Geschichte begründet, in Struktur und Kultur tief verwurzelt – die Märkte von Versicherungen und Immobilien. Der Staat und die Stadt sind zu schwach, um Taktgeberinnen der Entwicklungen zu sein. Sie regulieren nicht, sie reagieren. Zuweilen macht sich diese Stadt kaputt und selbst jenen zu schaffen, denen es besser zu gehen scheint oder weiter weg von den Epizentren leben. Irgendwo in Queens und nicht mal in der Nähe einer angesagten Nachbarschaft, höre ich, zahlt eine Bekannte für ihre ein-Zimmer-Wohnung jedes Jahr weitere $100 pro Monat auf ihre Miete drauf. Was kann die Zukunft einer solchen Stadt noch ihren Bewohnerinnen bieten? Was wird am Ende dieser Entwicklung noch von ihr übrig bleiben?
New York entflammt eine Begeisterung, die ihren Treibstoff aus ihrer kulturellen Omnipräsenz und den unerschöpflichen Geschichten der New Yorker bezieht. Doch irgendwann erschöpft sich meine Begeisterung über sie. Die Stadt ist eine Königin, aber auch eine Herrin. Die Menschen in ihr dürfen sie bestaunen und müssen sich ihren Regeln unterwerfen. Um zu überleben, musst du schuften. Die Stadt ruht nicht und lässt dich nicht in Ruhe.