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Kirschen, Politik und Refiguration von Räumen

19. August 2022

Gästen zeigt man gern etwas Besonderes und je nachdem wo ihre Interessen liegen, rangieren die ausgewählten Orte von Museen, Shoppingmalls, historischen Innenstädten, beeindruckenden Naturreservaten bis hin zum neuesten 5-Sterne-Restaurant. Unsere Gastwissenschaftler*innen aus Chile interessieren sich beispielsweise dafür, wie sich die Obstproduktion in Deutschland von der in ihrer Heimat unterscheidet. Aus diesem Grund haben wir, das SFB-Projekt A03 „Waren und Wissen II“ in Kooperation mit dem DFG-Projekt „Apples and Flowers“[1], mit Beatriz Bustos [2] , Patricia Retamal und Raúl Contreras einen Besuch auf einen Obstbauernhof unternommen. Beatriz Bustos ist promovierte Geographin und arbeitet derzeit als assoziierte Professorin an der Universität von Chile. Ihre Kollegin Patricia Retamal forscht derzeit für ihre Doktorarbeit in feministischer Geographie. Raúl Contreras arbeitet als Berater bei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und strebt die Promotion in Agrarökonomie an.

© Linda Hering/Lara Espeter

Obstbau: mal groß, mal klein

Am Rande von Potsdam treffen wir Gerhard Neumann auf seinem Hof. Diesen hat er im Jahr 1992, als nach der Wiedervereinigung 1989 endlich ausreichend Geld zusammengetragen war, gepachtet, um Obst anzubauen. Der 83-jährige weiß viel zu berichten vom Hungern während und nach dem Krieg und der Sehnsucht nach den Ferien auf dem Bauernhof der Großeltern, wo es immer genügend zu essen gab. Letzteres treibt ihn an, eine Gärtnerausbildung und zwei Studien zu absolvieren, um schließlich im Bereich der Phytopathologie (Lehre der Pflanzenkrankheiten) in der DDR in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zu arbeiten.

Besonders die Geschichte der LPGs und die Übergangsprozesse zur heutigen Flächennutzung waren für die chilenischen Wissenschaftler*innen von großem Interesse.

Auf die Frage hin, was sich seit damals geändert hat, erklärt er: Nachdem früher die Sozialistische Einheitspartei Deutschland im Zuge der Planwirtschaft Entscheidungen u.a. über Preise, Sorten und Anbaumengen zentral gesteuert hat, seien es heute Finanzoligarch*innen, die genau dies weiterführen. Aus diesem Grund versucht er so unabhängig wie möglich zu bleiben. Sein Betrieb läuft vor allem, da die ganze Familie mithilft, die 38 Hektar zu bewirtschaften. Verkauft wird an Privatkund*innen, die selbst ernten oder im Hofladen das frisch gepflückte Obst einkaufen. Was sie an Gemüse oder anderen Gütern nicht selbst kultivieren, wird vom Großhandel dazugekauft – so z.B. Wurstspezialitäten, Honig oder Getränke.

Die Form des Obstbaus, die auf das Selbstpflücken von Endkonsument*innen ausgelegt ist, ist für unsere chilenischen Gäste etwas Unbekanntes. In Chile dominiert der exportorientierte Anbau. In dem südamerikanischen Land gibt es fast ausschließlich Großbetriebe, die sich darauf spezialisiert haben, Trauben, Äpfel und Heidelbeeren in die EU, die USA und nach China mit Containerschiffen auszuführen.

© Linda Hering/Lara Espeter

Externe Einflüsse wie Corona oder die steigenden Energiepreise setzen den Betrieb zunehmend unter Druck. Die Kirschen bspw. müssten eigentlich beregnet werden, um eine besondere Qualität zu erhalten. Dies ist jedoch kosten- und arbeitsintensiv. Staatliche Unterstützung gebe es, so Neumann, diese sei aber zu bürokratisch und mit zu vielen Auflagen versehen, weshalb er auf diese zusätzliche Arbeit lieber verzichtet.

Während des Gesprächs und der anschließenden Führung über die Obstplantage klingelt das Telefon im Minutentakt. Gerhard Neumann beantwortet Fragen zu Öffnungszeiten, macht einen Termin für ein Interview mit dem RBB aus oder bespricht mit seinem Verkaufsleiter, für wie viel Euro ein Kilo Kirschen verkauft werden soll – er kümmert sich um alles.

Wir besichtigen die Kirschbaumplantage. Gerhard Neumann inspiziert immer wieder an den Bäumen einzelne Früchte auf Madenbefall. Chemischer Pflanzenschutz wird zwar eingesetzt, aber nur so viel wie nötig, um die Maden abzuhalten. Die Kund*innen wollen weder Maden auf den Kirschen kriechen sehen, noch Pestizide zu sich nehmen. Seiner Meinung nach stellt aber nicht der Einsatz von Letzterem an sich ein Problem dar, sondern die enormen Mengen, die bei der Produktion in Großbetrieben genutzt werden. Darüber hinaus müssen die Stare von ihrer Beute abgehalten werden, indem Knalllaute ausgestoßen werden, was wiederum die Anwohner*innen verärgert. Zwiespalt überall.

© Linda Hering/Lara Espeter
© Linda Hering/Lara Espeter

Politischer Kontext und die Refiguration landwirtschaftlicher Flächen

Die Fragen um die Refiguration von Räumen, als prozesshafte und aus sozialräumlichen Konflikten herrührende gesellschaftliche Um-Ordnung, beschäftigen uns auch während der Gespräche mit Gerhard Neumann und der Besichtigung der Felder. In dem konkreten Beispiel des Selbsterntehofs sind die Veränderungen der landwirtschaftlich genutzten Fläche sowie der damit in Verbindung stehenden Arbeitsprozesse über die historische Entwicklung nachvollziehbar, fast greifbar. Insbesondere der Einfluss der Veränderungen des politischen Systems wird besonders deutlich. So befand sich an diesem Ort nach dem Zweiten Weltkrieg eine durch Fusionierungen stetig wachsende LPG. Durch die Wiedervereinigung Deutschlands wurde eben diese Fläche zu einer Brache, die vor der Ausstellung von neuen Pachtverträgen nur inoffiziell bewirtschaftet wurde. Anschließend vergrößerte Gerhard Neumann durch die Pachtung dieser und die Hinzunahme angrenzender Flächen seinen Betrieb wieder, wenngleich in deutlich kleinerem Maßstab. Weitere kontinuierliche Veränderungen stehen mit der Nutzung der Anbaufläche bspw. durch die Einhaltung von Fruchtfolgen oder der Erprobung von neuen Obstsorten im Zusammenhang. So wachsen auf dem von uns besichtigten Feld seit ein paar Jahren Himbeersträucher, die aufgrund der abnehmenden Erträge in naher Zukunft durch neue Beerensträucher oder aber durch Obstbäume ersetzt werden. Die Auswahl orientiert sich einerseits daran, was qualitativ, also geschmacklich gut ist, andererseits werden aber immer auch langfristige Ertragsprognosen einbezogen, wodurch sich der Hof stetig wandelt.

Die Relevanz politischer Kontexte auf die Refiguration unter anderem von ländlichen Räumen lässt sich nicht nur in Neumann‘s Erntegarten erkennen. Der Einfluss von politischen Rahmenbedingungen bspw. auf Eigentumsverhältnisse lässt sich, so berichten uns die chilenischen Wissenschaftler*innen, auch mit Chile vergleichen. So wurde die Wirtschaft infolge eines schweren Erdbebens 1939 durch die Gründung des Verbands für Produktionsförderung (Corporación de Fomento de la Producción) exportorientiert umstrukturiert. Unter der sozialistischen Regierung Salvador Allendes (1970 bis 1973) wurden privatwirtschaftliche Betriebe, unter anderem die der Landwirtschaft, verstaatlicht. Die 1973 durch einen Militärputsch errichtete Diktatur unter Pinochet (1973 bis 1988) führte nicht nur zur Privatisierung dieser neuen Staatsunternehmen, sondern ebenso die Wassernutzungsrechte wurden privatisiert. Die in dieser Zeit vergebenen Rechte beeinflussen die Landwirtschaft des Landes bis heute. Durch diese haben kleinere Betriebe außer zu Regenwasser kaum bis keinen Zugang zu Wasser.

Die Beispiele verdeutlichen, wie aufgrund von sich different entwickelten Kontexten, die u.a. mit verschiedenen Eigentumsverhältnissen, Wasserrechten oder der Ausrichtung der landwirtschaftlichen Produktion einhergehen, sozialräumliche Strukturen lokalspezifische Eigenarten ausbilden. Dies geht wiederum damit einher, dass Erwartungen und Legitimierungsprozesse unterschiedlich ausgehandelt werden. Kirschanbau ist daher nicht nur in der Ausgestaltung der landwirtschaftlichen Flächen und den damit in Verbindung stehenden Produktionsverhältnissen je spezifisch, sondern erweckt ganz unterschiedliche Assoziationen auf Seiten der Produktion und Kundschaft, wie auch unter Wissenschaftler*innen.

Autor*inneninfo

Dr. Linda Hering (linda.hering@hu-berlin.de) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Wissen und Ware II: Kommunikatives Handeln von Konsumenten und Intermediären“ (A03) im Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“ (SFB 1265) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr besonderes Interesse gilt der Frage, wie das Verhältnis zwischen Mensch, Umwelt und Technik das Agrar- und Ernährungssystem (um-)gestaltet und wie sich dies zu Nachhaltigkeit verhält.

Lara M. Espeter (l.espeter@tu-berlin.de) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem DFG-Projekt „Äpfel und Blumen. Auswirkungen von Pandemien auf die (Re-)Organisation von Warenketten für Frischeprodukte (Apples and Flowers)“ und assoziiertes Mitglied im Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“ (SFB 1265) an der Technischen Universität Berlin. Ihre Forschung fokussiert auf die Ursprüngen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit, wobei sie aktuelle und historische Strukturen der globalen   Weltwirtschaft untersucht.


[1] Das Projekt beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Wertschöpfungsketten und vergleicht dabei Äpfel und Schnittblumen in je zwei unterschiedlichen Anbauregionen. https://www.tu.berlin/mes/forschung/projekte/apples-and-flowers

[2] http://www.fau.uchile.cl/facultad/estructura/cuerpo-academico/geografia/beatriz-bustos