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„Ich halte solche Heile-Welt-Vorstellungen für hochgefährlich“

17. Juli 2023

„Mich treibt gerade das Thema ,Natur‘ stark um – weil es überraschenderweise in meiner Stadtforschung seit einiger Zeit eine sehr wichtige Rolle spielt. In der ersten Phase unseres Teilprojekts am SFB haben wir in den drei Metropolen Berlin, Vancouver und Singapur untersucht, welche geografischen Imaginationen die Menschen haben, soll heißen: welche Vorstellungen sie von der Welt haben. Dabei interessierte uns insbesondere, an welchen Orten sie sich besonders sicher und aufgehoben fühlen. Eine Antwort war in 180 Interviews auf allen drei Kontinenten gleich, sie lautete: die Natur. Damit hatten wir nicht gerechnet.

Bei der Analyse unserer Daten konnten wir feststellen, dass es drei Gründe gibt, weshalb die Natur von Städter:innen als derart positiv und versichernd wahrgenommen wird. Erstens wird sie immer als Wildnis betrachtet, die fernab der Citys liegt: ungezähmt, entfernt, grenzenlos. Zweitens gilt sie als Rückzugsort, als ein abseitiges Refugium, das noch nicht von der Zivilisation verbaut oder ruiniert wurde – ganz im Gegensatz zur Stadt. Und drittens stellt die Natur für die meisten Menschen einen Ort der Identifizierung dar: Hier kommt man zur Ruhe, findet zu sich selbst und zu innerer Frische, nimmt die Vollständigkeit der eigenen Psyche wahr. Besonders interessant finde ich, dass diese heilen Naturimaginationen in allen Metropolen gleich sind, obwohl ,Natur‘ jeweils etwas völlig Unterschiedliches bedeutet. In Singapur denken die Menschen an dichte Urwälder in Ländern wie Laos, in Vancouver an die imposanten Gebirgsketten von British Columbia – und in Berlin an die Wiederkehr der Wölfe.

Für mich ist diese Entdeckung auch deshalb so faszinierend, weil ich selbst eigentlich immer ein Stadtmensch war: All meine Wohnungen lagen nah am Zentrum, mit Pflanzen oder Tieren konnte ich schon als Kind nicht viel anfangen, und den Rasen mähte ich nur deshalb, weil meine Mutter das wollte. Vor ungefähr zwölf Jahren aber habe ich festgestellt, dass ich mehr als nur einen Balkon brauche; ich wollte einen Ort im Grünen, wo ich an der frischen Luft lesen kann. Deshalb habe ich mir eine Laube am See gesucht, eine richtige Datsche. Und ich merke mit jedem Jahr mehr, wie gut es mir tut, als Ausgleich zu meinem verkopften Beruf dort im Garten zu werkeln – oder einfach nur den Graureihern und Kormoranen zuzugucken.

Naturbetrachtung ist also zu einem wichtigen Teil meines Privatlebens geworden. Deshalb bereitet es mir nun so viel Freude, auch beruflich darüber nachzudenken: Ich würde gerne noch besser verstehen, welche Folgen es hat, dass Städter:innen die Natur als einen Raum wahrnehmen, der ihnen Sicherheit gibt – und das mit den Imaginationen vergleichen, die Menschen auf dem Land haben. Das erforschen wir jetzt, in der zweiten Phase, in ländlichen Räumen in Deutschland und Kanada. Ich bin schon gespannt, wie dort die Perspektiven sind; Daten aus den ersten Feldaufenthalten deuten darauf hin, dass Natur auf dem Land längst nicht derart idealisiert wird. In unserem Fallbeispiel Seeland in Sachsen-Anhalt gibt es etwa große landwirtschaftliche Betriebe, deren Mitarbeiter:innen oft einen völlig anderen Zugang haben: Für sie bedeutet ,Natur‘ nicht nur Landlust, sondern in erster Linie Lebensgrundlage.

In den Städten wird die Nähe zur Natur dagegen oft als Zeitgeist-Phänomen zelebriert. Man denke an Country-Style-Mode mit Blümchen im Haar oder an die aktuellen Wohndesigns, die so aussehen, als würden wir alle in Landhäusern leben. Der Wander- und Camper-Boom gehört genauso dazu, oder die Urban-Gardening-Phase, in der gefühlt in jedem Hinterhof Tomaten gepflanzt wurden. Natürlich sind das Trends, die eine bestimmte Ästhetik aufgreifen und nach einer Weile wieder verschwinden werden; aber ich glaube, die Grundthematik der romantischen Naturimaginationen wird uns als Gesellschaft sehr viel länger beschäftigen.

Für mich stellt sich die brisante Frage, wie es sich auf unsere Umwelt auswirkt, wenn wir vor allem in Großstädten derartige Phantasmen einer intakten Naturwelt pflegen – und das in Zeiten multipler Krisen. Auf mich wirkt es, als würde gerade das akademische Bürgertum in zubetonierten Siedlungen sitzen, seinen imaginären Blick über wunderschöne Landschaften schweifen lassen und glauben, diese Caspar-David-Friedrich-Szenerie wäre immer noch da draußen. Ich halte solche Heile-Welt-Vorstellungen einerseits für hochgefährlich, weil sie zu einer Entpolitisierung der Gesellschaft führen könnten – also dazu, dass Entwicklungen wie der Klimawandel einfach ignoriert werden. Andererseits könnten diese Naturimaginationen aber auch ein politischer Hebel sein, um mehr Menschen zu erreichen und zu mobilisieren.“

Ilse Helbrecht ist Professorin am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiterin des Projekts „Geographische Imaginationen II: Ontologische (Un)Sicherheiten in ländlichen Räumen“.

Céline Lauer ist Stadtanthropologin und Wissenschaftsredakteurin bei WELT/WELT am Sonntag. Im Juni 2023 war sie als Journalist in Residence zu Gast am SFB 1265.

Zum Weiterlesen:

Pohl, L. & Helbrecht, I. (2022). Imaginäre Naturverhältnisse: Psychoanalytische Einsichten zur Herstellung ontologischer Sicherheit in Berlin, Vancouver und Singapur. Geographica Helvetica, 77, S. 389–401.