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„Plötzlich merkt man: Das, was man sich ausgedacht hat, ist so nicht umsetzbar“

7. August 2023

„Mich beschäftigt gerade die Frage, wie man es eigentlich schafft, in einer derart großen, heterogenen Forschungsgruppe wie dem SFB eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Hier arbeiten so viele verschiedene Menschen aus so vielen verschiedenen Disziplinen an so vielen verschiedenen Themen – wie lässt sich das alles produktiv zusammenführen? Klar: Diese Herausforderung ist für uns nicht neu, sie bestand von Anfang an. Aber aus meiner Sicht tritt sie jetzt, in der zweiten Förderphase des SFB, immer stärker in den Vordergrund.

Ich selbst begleite das Projekt schon seit der Antragsstellung vor sieben Jahren. Der SFB beruht auf dem Dachbegriff der Refiguration. Das heißt: Wir gehen davon aus, dass sich die Gesellschaft in gegenläufigen Prozessen weiterentwickelt, bei denen Spannungen entstehen, aus denen wiederum soziale Veränderungen resultieren – und diese Spannungen lassen sich über die Räume erfassen und erklären, in und zwischen denen sie stattfinden. Dazu haben wir vier unterschiedliche Logiken der Verräumlichung identifiziert: Räume können sich – idealtypisch gesprochen – als Orte, Territorien, Bahnen oder Netzwerke bilden. Im SFB geht es nun darum, diese Raumfiguren mit der Empirie aus dem Feld ins Gespräch zu bringen – und so aktuelle Konflikte nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären.

Damals im Antrag und auch in der ersten Förderphase ist es uns aus meiner Sicht sehr gut gelungen, gemeinsame Fragestellungen zum Raum zu entwickeln und für die verschiedenen Disziplinen – Soziologie, Geographie, Architektur, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Stadtanthropologie, Kunst und Planung – durchzudeklinieren. Aber mit Beginn der zweiten Förderphase sind seit 2022 viele neue Leute aus der ganzen Welt zum SFB dazu gekommen, mit völlig anderen Hintergründen, Perspektiven und Methoden. Es ist keine leichte Aufgabe, sie alle in den SFB zu integrieren und gemeinsam weiter über Raumkonflikte nachzudenken; zugleich ist es aber ungeheuer aufregend, diese Vielfalt theoretisch produktiv zu machen.

Gerade bei den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen merke ich momentan, dass ihre Forschung manchmal stockt, weil sie spannende Entdeckungen im Feld machen, aber in der Analyse ihres Materials mit den zentralen Begriffen nicht weiterkommen. Manche reagieren deshalb eher zurückhaltend oder skeptisch. Ich kann das verstehen, weil diese Raumfiguren auf einer abstrakten Ebene sehr gut funktionieren, im Feld aber oft oszillieren oder sich überlagern.

Für mich besteht der Trick darin, die Figuren mit ihren unterschiedlichen Logiken zu nutzen, um sensibler für räumliche Zusammenhänge zu werden. So habe ich es beispielsweise gemacht, als ich in der texanischen Stadt Waco geforscht habe. Mithilfe des Refigurations-Konzepts konnte ich herausarbeiten, dass dort die Raumfiguren ,Ort‘ und ,Bahnenraum‘ aufeinanderprallen: Einerseits hat sich die Stadt dank einer erfolgreichen Fernseh-Show zum Tourismusmagneten entwickelt, andererseits wurde sie jahrelang höchstens als Zwischenstopp wahrgenommen – Waco liegt an der Interstate 35, einer der zentralen Nord-Süd-Achsen. Diese beiden Logiken übereinanderzulegen und so die Konflikte vor Ort aufzuschlüsseln, fand ich sehr produktiv.

Bei allem Bemühen, unsere Forschung zusammenzuhalten, müssen wir aber natürlich auch mitbedenken, dass die Teilprojekte lebendig sind – und sich manchmal in ganz andere Richtungen entwickeln, als es im Antrag steht. Man geht ins Feld, macht Entdeckungen, kommt auf neue Ideen, und plötzlich merkt man: Das, was man sich ausgedacht hat, ist so nicht umsetzbar oder führt nicht an die interessantesten Punkte. Diese Unwägbarkeiten könnten im ungünstigsten Fall dazu führen, dass zwar alle zum Thema ,Raum‘ arbeiten, aber in ganz unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Meine Wunschvorstellung ist es nichtsdestotrotz, dass es uns am SFB ganz am Ende gelingt, eine Theorie der Refiguration von Räumen zu generieren und unser erhobenes Wissen produktiv und systematisch zusammenzuführen. Diesen Anspruch sollten wir haben.“

Silke Steets ist Professorin am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Co-Leiterin des Teilprojekts „Control/Space: Die Räumlichkeit digitaler Infrastrukturen in Kontexturen, Karten und Diskursen“.

Céline Lauer ist Stadtanthropologin und Wissenschaftsredakteurin bei WELT/WELT am Sonntag. Im Juni 2023 war sie als Journalist in Residence zu Gast am SFB 1265.

Zum Weiterlesen:

Steets, Silke (2021): Fixing Up Waco, Texas: Populäre Religion, das Sentimentale und die Refiguration von Räumen. In: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 5. S. 141-170. Open Access unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s41682-021-00093-x