Pokémon Go – Wenn der Friedhof zum Spielplatz wird
Für Manuela schien der Friedhof eine Zeitlang der ideale Spielplatz: Kaum Menschen, keine Autos, dafür volle Konzentration. Die Diplomkauffrau ist eine passionierte Spielerin von Pokémon Go, jenem berühmten Game, das darin besteht, mit Hilfe des Smartphone-Bildschirms im physischen Raum nach digitalen Monstern zu jagen, den so genannten Pokémons. Ein wildes Pokémon wird eingefangen, indem die Spieler*innen mittels eines Fingerwischs auf dem Bildschirm einen digitalen Pokéball nach ihm werfen. Und eben solche Pokémons behausten auch den Hauptfriedhof in Neuss, bis einige Spieler*innen – so erzählt es Manuela – dabei „lautstark über die Gräber“ trampelten. Die Friedhofsleitung setzte deshalb bei dem Hersteller des Spiels durch, die entsprechenden Pokémons zu löschen.
Das ist inzwischen fünf Jahre her, aber mit mehr als 70 Millionen aktiven Spieler*innen weltweit ist Pokémon Go immer noch das populärste aller so genannten Hybridreality Games. Im Teilprojekt B04 [SFB1] erforschen wir dieses Phänomen, weil es ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist, wie mit dem Smartphone die digitale Wirklichkeit Einzug in den öffentlichen Raum hält. Längst lassen sich Handybesitzer*innen von digitalen Karten in Echtzeit durch unbekannte Straßen leiten oder suchen per Dating-Apps Flirtpartner*innen in der Nähe. Solche Apps, die auf die Standortfunktionen des Smartphones zugreifen, werden in der Raumforschung unter dem Begriff lokative Medien zusammengefasst. Die Forschung erwartet, dass sie das öffentliche Leben in Zukunft zunehmend prägen werden. In unserem Forschungsprojekt untersuchen wir nun, wie sich das Zusammenleben im Zuge dieser Mediatisierung verändert. Wir erforschen speziell Hybridreality Games, weil sie die technischen Möglichkeiten lokativer Medien besonders stark ausreizen. Mutmaßlich zeigen sich die gesellschaftlichen Folgen und Konflikte hier stärker und früher als in anderen Bereichen öffentlichen Lebens.
Wir führen deshalb nicht nur in Deutschland zahlreiche Interviews mit Pokémon-Spieler*innen, sondern sind auch nach Tokio gereist, dem Mekka für Hybridreality Games. Wie reibungslos sich Pokémon Go in Tokios öffentlichen Raum integriert, ist exemplarisch auf dem Vorplatz des Elektronikmarkts Yodabashi Camera beobachtbar. Dort versammeln sich regelmäßig Hunderte Spieler*innen, um gemeinsam besonders mächtige Pokémons zu bezwingen. Aufkleber, die das Pokémon-Logo zeigen, weisen weiße Bänke als Sitzgelegenheit speziell für Spieler*innen aus. Sie sind in langen Reihen angeordnet, sodass alle Menschen in Richtung Elektronikmarkt schauen können, wobei sie tatsächlich vor allem auf ihr Handy blicken. Dazwischen und daneben drängen sich ebenso zahlreich Passant*innen, die ihren Einkäufen nachgehen und kaum Notiz von den anwesenden Spieler*innen nehmen.
Aus Europa wissen wir, dass – siehe Neuss –- viele Friedhöfe, Kirchen oder auch Gedenkstätten Pokémon Go mittlerweile verbannt haben. Im Gegensatz dazu beobachten wir in Tokio, dass Spielen von Pokémon Go weniger konfliktbehaftet erlebt wird und meist auch von religiösen Instanzen toleriert wird. Auf unseren Streifzügen durch Tokio war das Monster jagen auf religiösen Stätten oder Friedhöfen jederzeit möglich. Auf dem Gelände von Tempeln dienen Statuen als Pokéstops, an denen sich die Spieler*innen mit Pokébällen und anderen Hilfsmitteln für die Monsterjagd ausrüsten können. Unsere japanischen Interviewpartner*innen berichten, dass selbst die wenigen Tempel und Schreine, in denen Pokémon Go unerwünscht ist, selten auf die technische Lösung der Löschung setzen, sondern Zettel aushängen, die Spieler*innen dazu auffordern, das Spielen zu unterlassen.
Offenbar gibt es hier entscheidende Unterschiede im öffentlichen Umgang mit Hybridreality Games. Eben diese wollen wir nun weiter analysieren, um zu verstehen, welche unterschiedlichen Strategien und kulturellen Praktiken zur Bewältigung und Vermeidung raumbezogener Streitigkeiten in beiden Ländern entstanden sind. Wir wollen damit auch zu dem Projekt dieses SFBs beitragen, Konflikte zwischen verschiedenen Raumfiguren näher zu analysieren sowie den Aspekt der Multiple Spatialities zu schärfen. Wir erhoffen somit auch Erkenntnisse dazu, welche Probleme künftig noch von lokativen Medien zu erwarten sind und welche Lösungsansätze sich in unterschiedlichen Territorien bereits abzeichnen.
Autor*inneninformation: Eric Lettkemann ist promovierter Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1265. Im Teilprojekt B04 zu Lokativen Medien beschäftigt er sich mit Raumkonflikten, die aus der zunehmenden Überlagerung des öffentlichen Raums mit digitalen Bedeutungszuschreibungen resultieren.