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Prozesse der FluchtMigration als Elemente der gegenwärtigen Refiguration gesellschaftlicher Räume

21. Februar 2025

Christina Hecht: Gemeinsam mit Carla Bormann und Ingrid Breckner habt ihr den Sammelband „Flucht, Raum, Forschung“ herausgegeben. Die Texte sollen in die raumsensible FluchtMigrationsforschung einführen. Wie können raumtheoretische Perspektiven dabei helfen, Flucht- und Migrationsprozesse zu erforschen und zu verstehen?

Franziska Werner: In aller Kürze: Raum hilft uns, ganz konkrete Phänomene im Bereich Flucht und Migration in den Blick zu nehmen und aufzuschlüsseln. Und zwar auf eine Weise, die es vermeidet, FluchtMigrationsforschung als essentialisierende und problematisierende Erforschung der Anderen oder Fremden zu betreiben. Wir können vielmehr Fragen: Was macht FluchtMigration als einer von vielen Prozessen mit ganz konkreten Räumen und welche Auswirkungen haben umgekehrt diese Räume auf die an FluchtMigration beteiligten Subjekte.

Philipp Piechura: Aber lass uns vorher nochmal ein paar Schritte zurückgehen: Raum ist ja zunächst, aus gesellschaftstheoretischer Perspektive, ein unglaublich faszinierendes Medium. Als Soziolog*innen sagen wir: Er strukturiert und er wird strukturiert. Er ist damit sowohl Ausgangspunkt als auch Ergebnis des Sozialen. Das heißt, der Raum bestimmt, wie wir handeln können, und gleichzeitig wird er von uns selbst geschaffen.

Franziska: Ja und beides ist wichtig! Denn es ermöglicht uns, soziale Prozesse und Verhältnisse in ihrer Vorherbestimmtheit als auch als veränderbar zu begreifen. Das gilt auch für Flucht und Migration. Beides sind keine natürlichen, sondern gesellschaftlich hervorgebrachte und geformte Phänomene.

Philipp: Genau! Und unsere Minimaldefinition von Migration ist die einer räumlichen Bewegung: Nämlich die – zumindest mittelfristige – Verlagerung des Lebensmittelpunktes von einem Ort an den anderen. Da liegt es natürlich nahe zu schauen, was ist denn dieser oder jener Raum, durch oder über den diese Bewegung stattfindet? Was macht ihn aus?

Franziska: Das ist unglaublich vielfältig, was uns da entgegentritt. Als grundlegendes Medium des Sozialen ist Raum – fast unabhängig davon, aus welcher theoretischen Richtung wir uns dem Raum nähern – zusammengesetzt. Er besteht aus verschiedenen Komponenten, wie etwa seiner Materialität, den Praxen seiner Hervorbringung und Nutzung, seiner institutionellen Regulierung und der semiotischen Ebene der Zeichen und Symbole.

Philipp: Und wenn wir dann noch transnationale und multi-skalare Aspekte dazu nehmen, ergibt sich ein wahnsinnig komplexes Bild. Über den Raumbegriff haben wir einen Rahmen, der uns einen holistischen Zugang ermöglicht.

Christina: Für den Band haben Autor*innen mit verschiedensten Hintergründen Beiträge geschrieben. Neben Forscher*innen aus der Stadt- und Regionalsoziologie, der Humangeographie oder den Bildungs- und Erziehungswissenschaften sind auch Praktiker*innen aus Vereinen, Kultureinrichtungen oder Ämtern vertreten. Welche Bedeutung haben diese vielfältigen Perspektiven für das Thema FluchtMigrationsforschung?

Philipp: Genau da kommt ja der holistische Aspekt des Raumbegriffs wieder ins Spiel. Natürlich ist das komplexe Bild der transnationalen und auch (post-)kolonialen Migrationsgesellschaft, die sich aus einer Mannigfaltigkeit von Funktionsräumen zusammensetzt, in einzelner Forschung nie vollumfänglich zu erfassen. Der räumliche Rahmen hilft uns aber, interdisziplinär sowie im Dialog mit Praktiker*innen zu arbeiten und zu denken, um uns dem anzunähern.

Franziska: Natürlich ist das kein Selbstläufer. Für den Arbeitsprozess am Buch sind wir erst als Redaktionskollektiv und später immer wieder in Workshops und Schreibgruppen mit den Autoren*innen in den intensiven Austausch gegangen.

Philipp: (lacht) Ja, und oft genug hat uns das selbst nochmal dazu gebracht, Vorannahmen zu hinterfragen oder zu präzisieren. Gerade im Austausch mit vielleicht auf den ersten Blick ‚raumlosen’ Disziplinen. Dabei haben wir gemerkt, wie viel Neues die Raumbrille sichtbar machen kann.

Christina: Mit welchen konkreten Themen und empirischen Fällen beschäftigen sich die Autor*innen in den Beiträgen? Gab es dabei etwas, das euch als Herausgeber*innen besonders überrascht oder beschäftigt hat?

Franziska: Das Buch deckt eine ganze Bandbreite an Themen ab. Es geht zum Beispiel um verschiedene Räume und deren Einfluss auf FluchtMigration – urbane, ländliche, digitale oder auch solidarische Räume. Besonders spannend fand ich dabei, wie wichtig soziale Medien für ukrainische Geflüchtete beim Ankommen sind.

Philipp: Uns war es aber auch wichtig, das Thema Rassismus in den Fokus zu rücken. In einem Beitrag wird zum Beispiel gezeigt, wie in stadtentwicklungspolitischen Begriffen wie Segregation oder Ghetto oft schon rassistische Bilder und Konnotationen mitschwingen.

Franziska: Ein weiteres zentrales Thema ist für uns das Wohnen und die Unterbringung. Das hat einen enormen Einfluss auf das Leben von Geflüchteten. Im Buch geht es dabei nicht nur um baugesetzliche Regelungen oder das oft vernachlässigte Thema Wohnungslosigkeit, sondern auch um die Architektur von Unterbringungseinrichtungen, Alternativen zur Sammelunterkunft sowie die Bedeutung des eigenen Wohnraums. Besonders überraschend war für uns unter anderem, wie unterschiedlich die Vorstellungen und Praktiken rund um Sanitäreinrichtungen sein können.

Philipp: Viele Geflüchtete kommen beispielsweise aus Herkunftsländern, in denen Bidets oder auch Hocktoiletten üblich sind. Diese gehören jedoch nicht zur typischen Sanitäreinrichtung in Gemeinschaftsunterkünften, die als entsprechend mangelhaft und unhygienisch wahrgenommen wird. Versuche, dies zu umgehen, können dazu führen, dass Toilettenbrillen abbrechen oder dass der Boden bei der improvisierten Nutzung von Wasserflaschen als Bidets geflutet wird. Paradoxerweise führt so das Bedürfnis nach Sauberkeit zu stärkerer Verschmutzung. Hier treffen also sehr praktisch unterschiedliche Vorstellung und auch räumliche Praktiken aufeinander.  

Franziska: Ein anderer wichtiger Punkt ist die Handlungsmacht der Geflüchteten selbst. Sie treten auch als politische Akteure auf. Dabei sind sie keine homogene Gruppe, sondern sehr vielfältige Akteur*innen in der Raumproduktion, etwa in Bezug auf ihr Geschlecht oder ihre Religion.

Christina: Was sind für euch als Herausgeber*innen zentrale Ergebnisse und Schlussfolgerungen, auf die Beiträge bzw. der Sammelband insgesamt verweisen? Welche Rolle spielt dabei Raum?

Philipp: Für uns ist vor allem klar geworden, wie viel eine raumsensible Perspektive bringt. Sie hilft dabei, Materialitäten und Praktiken sichtbar zu machen, die sonst oft untergehen oder gar nicht erst thematisiert werden, und so neu über den Zusammenhang von FluchtMigration und räumlicher Entwicklung nachzudenken.

Franziska: Und die Praktiker*innen im Team haben natürlich immer wieder dafür gesorgt, dass wir uns nicht allzu sehr in der Begriffsarbeit verlieren. Ich denke, am Ende ist uns das durch die vielfältigen Beiträge gut gelungen, das zusammenzubringen. Und das Glossar, was so während der Arbeit am Buch entstanden ist, bietet eine stabile Grundlage für die weitere Zusammenarbeit.

Philipp: Wir denken, dass so insgesamt im Buch deutlich wird, wie wichtig eine raumsensible FluchtMigrationsforschung in Zukunft sein wird. Zum einen, weil sie Anknüpfungspunkte für die Praxis schafft. Zum anderen, weil sie gesellschaftspolitische Perspektiven eröffnet.

Franziska: Das ist gerade in den oft hitzigen Debatten rund um FluchtMigration wichtig. So können wir evidenzbasierte Argumente liefern, die den oft problematischen oder unsachlichen Beiträgen in der öffentlichen Diskussion etwas entgegensetzen.

Autor*innenbiographie:

Franziska Werner ist Stadtsoziologin und FluchtMigrationsforscherin. An der HafenCity Universität Hamburg promoviert sie zu den Raumproduktionen geflüchteter Frauen in Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stadt- und Raumsoziologie, Fluchtmigrationsforschung und qualitative Sozialforschung. Seit März 2022 ist sie assoziiertes Mitglied im Integrierten Graduiertenkolleg des Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration von Räumen“.

Philipp Piechura ist Stadt- und Migrationsforscher. Er promoviert an der HCU im Bereich Stadtplanung zur Unterbringung Geflüchteter. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit der Bedeutung und Umsetzung globaler Makrotrends wie Klimaanpassung, Digitalisierung und Migration in der Stadt- und Raumentwicklung. Seine Schwerpunkte liegen auf raumsensiblen und partizipativen Methoden, Policy-, Infrastruktur- und Netzwerkanalyse.