Raum-Matrix des Westjordanlands
Das Westjordanland ist eine der am stärksten politisch, ideologisch und militärisch umkämpften Regionen unserer Welt, es ist Schauplatz und Projektionsfläche des Nahost-Konflikts. Als ich im Frühjahr 2019 zwei Vertreter*innen der israelisch-palästinensischen Menschenrechts-NGO B’Tselem (https://www.btselem.org/) und deren Arbeit kennenlerne, entwickelt sich der Wunsch, selbst an die Orte zu reisen und mir ein Bild zu machen von dem, was ich in den Nachrichten höre, aus Büchern und Texten kenne, in Videos gesehen habe. Schließlich plane ich, eine Woche im September in Ramallah und der umgebenden Region zu verbringen, in Begleitung einer Mitarbeiterin von B’Tselem. Die Beobachtungen, die ich während meines einwöchigen Aufenthaltes sammele, reichen bei weitem nicht aus, um eine umfassende und abwägende Einordnung oder Bewertung des Konflikts, seiner historischen Entwicklung, der Macht- und Herrschaftsverhältnisse vorzunehmen. Daher die grundlegende Entscheidung: Ich konzentriere mich auf die räumlichen Beziehungen und Strukturen, die ich im Westjordanland gesehen und erfahren habe, und versuche, sie so gut wie möglich zu beschreiben. Dabei bleibe ich weit hinter dem Anspruch einer Raumsoziologie zurück, die immer auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse als räumliche (An)Ordnungen analysiert. Es geht mir vorerst darum, die Strukturierung des Raums in der Westbank aus der Perspektive der alltäglichen Erfahrung sichtbar zu machen, anhand dreier Raumbeziehungen, die sich wie ein Leitmotiv durch meine Reise gezogen haben: Innen/Außen – Oben/Unten – Offen/Geschlossen.
Innen/Außen
Ich lande in Tel Aviv und werde von dort nach Ramallah gefahren. Auf dem Weg lerne ich die Grundlagen des hiesigen Straßenverkehrs: es gibt zwei unterschiedliche Autokennzeichen – die gelb-schwarzen israelischen und die weiß-grünen palästinensischen. Die Straße, auf der wir sind, darf man nur mit einem gelben Kennzeichen befahren. Irgendwann passieren wir ein rotes Schild, dreisprachig beschriftet: „This Road Leads To Area A / Under Palestinian Authority / The Entrance For Israeli / Citizens Is Forbidden, / Dangerous To Your Lives / And Is Against The Israeli Law.“ Okay, denke ich, einschüchternd, aber so einfach ist das also. Ich hatte Kontrollen durch Polizei oder Militär erwartet, Checkpoints, und merke jetzt: diese Grenze ist überraschend offen, durchlässig. Niemand kontrolliert, ob ein israelischer Bürger in diesem Auto sitzt und gegen das Gesetz verstößt.
Was sich verändert, ist der Zustand der Straße – sie ist kaputter, holpriger – und die Autos: Jetzt sehe ich zum ersten Mal welche mit weiß-grünem Kennzeichen. Als nächstes erblicke ich die Mauer: plötzlich ist sie da, vielleicht 100 Meter von uns entfernt, und zieht sich eine Weile entlang unserer Strecke. Dabei verändert sie ihr Aussehen: graue Betonplatten, dann Zaun mit Stacheldraht, dann hellroter und gelber Backstein. Ich verstehe offen gesagt nicht genau, was sie hier abtrennt, denn auf der einen wie auf der anderen Seite scheint nur unbewohntes Land zu sein. Manchmal kommen wir an Ortschaften vorbei; noch sieht alles gleich aus für mich. Meine Begleiterin erklärt mir: Die palästinensischen Orte erkenne ich daran, dass auf allen Häusern große schwarze oder weiße Wasserkanister stehen, da die Wasserversorgung in den palästinensischen Gebieten nicht immer gewährleistet ist. Durch diese Information beginne ich die Gliederung der Landschaft zu verstehen: die Orte mit den Häusern mit schrägen Dächern und ohne Wasserkanister sind israelische Siedlungen. Dadurch ergibt auch der Verlauf der Mauer einen Sinn, sie trennt die Siedlungen voneinander ab, teilweise mit großem Abstand. Auf mich wirken die israelischen Siedlungen wie eingezäunt, bis ich verstehe: es gibt Straßen, die die Siedlungen miteinander verbinden und ausschließlich von Siedlern befahren werden dürfen, und die so etwas wie eine Matrix bilden, die sich über die restliche Landschaft legt, zusammen mit ihr und zugleich abgetrennt von ihr koexistiert. Wir fahren durch eine Unterführung – über uns die Straße der Siedler, wir hier unten auf der Straße in Zone A, die kein israelischer Bürger betreten darf. Ich kann mir keine geographische, zweidimensionale Karte vorstellen, die die Koexistenz dieser zwei Ebenen abbilden kann. Man kann diesen Raum hier nur dreidimensional verstehen und angemessen repräsentieren, die Grenzen zwischen Innen und Außen verlaufen sowohl horizontal als auch vertikal.
Oben/Unten
Die vertikale Anordnung des Raums zeigt sich in der Landschaft durchgängig an der Platzierung von israelischen Siedlungen auf Hügeln und Anhöhen und palästinensischen Orten an Hängen oder in Tälern. Eyal Weizman hat in diesem Zusammenhang die Siedlungspolitik und die damit verbundene Fragmentierung des Westjordanlands als „Politics of Verticality“ bezeichnet (Link: https://www.metamute.org/editorial/articles/politics-verticality): Die Platzierung in der Höhe kann dabei sowohl symbolisch als Ausdruck von Über- und Unterordnung, als auch strategisch als Mittel der Überwachung, Kontroll- und Machtausübung gewertet werden. Noch einen Schritt weiter geht Stuart Elden, für den horizontal und vertikal als Achsen des Raums nicht ausreichen und der stattdessen von „volumetric space“ spricht: das territoriale Volumen, das entsteht, wenn sowohl ober- als auch unterirdische Räume zusammengedacht werden, Luftraum ebenso wie unter der Erde verlaufende Tunnel. Auf der Autofahrt nach Jerusalem erzählt meine Begleiterin mir von Konflikten um Wasser- und Abwasserleitungen, und ich frage mich, wie die gesamte unsichtbare Infrastruktur aufgeteilt ist – sind israelisches und palästinensisches Abwasser getrennt?
In Jerusalem selbst dann begegnet mir die Anordnung von Oben und Unten auf kleinerer Skala: Wir laufen durch die Gassen der Altstadt, vorbei an vielen Geschäften, der Via Dolorosa, dem Geburtsort der Jungfrau Maria, zahllosen Touristen. In einer Straße hängen im zweiten Stock israelische Flaggen an den Balkonen, an den unteren Balkonen hängt nichts, nur Wäsche zum Trocknen. Wer wohnt hier? Gibt es Konflikte im Treppenhaus? Später ist ein Abschnitt einer Straße in drei Meter Höhe komplett mit einem Metallgitter bedeckt. Ich frage nach: Oben wohnen israelische Familien, unten sind arabische Geschäfte. Das Gitter dient als vertikale Abgrenzung, von oben wird Abfall runtergeworfen: leere Flaschen, Zigarettenschachteln, benutzte Windeln. Lässt sich das einordnen im Sinne einer vertikalen (Mikro)Politik, in der die Oberen ihren Müll auf die weiter unten werfen, oder ist es einfach Nachlässigkeit? Soll das Gitter schützen – wenn ja, wen? – oder die Abgrenzung markieren? Ich frage mich, ob auch dieses Gitter der (Über)Ordnung, Dominanz und Überwachung dient.
Offen/Geschlossen
Es ist Mittwoch früh, als mich die Nachricht erreicht: Nur ein paar Kilometer von meinem Hotel in Ramallah entfernt ist am größten Checkpoint der Region, Qalandiya, eine Frau erschossen worden (Link: https://observers.france24.com/en/20190920-palestinian-woman-shot-killed-israeli-soldiers-checkpoint). Es gibt widersprüchliche Aussagen darüber, ob sie ein Messer hatte, inwiefern der Schuss gerechtfertigt war, und vor allem Empörung darüber, dass die Frau so lange blutend auf der Straße lag, bis ein Krankenwagen kam. Ich bin zum ersten Mal, seitdem ich hier bin, wirklich verunsichert und frage mich, wieviel Gewalt und Gefahr hier zum Alltag gehören und was das mit den Menschen, mit dem Alltag, mit den Gedanken und Gefühlen macht. Durch den Checkpoint in Qalandiya passieren wöchentlich mehrere Zehntausend die Grenze zwischen Jerusalem und dem Westjordanland, für ca. 4000 gehört die Passkontrolle und eventuelle Durchsuchung zum täglichen Arbeitsweg (Link: https://www.timesofisrael.com/israel-opens-new-qalandiya-checkpoint-phasing-out-inadequate-crossing/). Hier zeigt sich die Komplexität des Begriffs „Grenze“, als Begrenzung, Abgrenzung, Markierung, Schnittstelle, an der die komplexe räumliche Matrix auf ein vermeintlich klares Hier und Dort runtergebrochen wird. Nicht jede und jeder kann diesen Checkpoint passieren: Nach Jerusalem darf man nur mit einer bestimmten Aufenthaltserlaubnis. Ein palästinensischer Mann erklärt mir, dass er bis vor ein paar Jahren Jerusalem nicht betreten durfte. Was hat sich in der Zwischenzeit geändert? Ich bin älter geworden, sagt er, ab 55 Jahren stellt man keine Gefahr mehr dar.
Nach dem Vorfall an diesem Mittwochmorgen bleibt Qalandiya jedenfalls geschlossen und anstatt wie geplant den Bus zu nehmen, fahren wir mit einem Privatauto einen Umweg, um von Ramallah nach Jerusalem zu kommen. Der zweitschnellste Weg ist nicht befahrbar, denn auch hier ist der Checkpoint geschlossen. Kurz denke ich, wir können jetzt gar nicht raus aus Ramallah, weil alle Wege versperrt sind – aber es gibt einen dritten Weg, vielleicht 45 Minuten länger als die anderen beiden. Dringende Termine, pünktliche Verabredungen – nicht möglich, wenn die Situation an den Checkpoints nicht vorhersehbar und verlässlich ist. „Collective Punishment“ nennt meine Begleiterin die Praxis, dass nach einem solchen oder ähnlichen Vorfall mehrere Checkpoints geschlossen werden, teilweise auch „Flying Checkpoints“ kurzfristig auftauchen und so bestimmte Straßen unterbrechen. Und dann erzählt sie mir von einer Region, die sie „The Swallowing“ nennt: fünf Dörfer in einer Talregion, die von allen Seiten von Siedlungen und Checkpoints eingeklammert oder „umzingelt“ sind. Die arabischen Begriffe sind جيب bzw. جيوب: die Übersetzungsmaschine schlägt mir dafür „Tasche“ und „Enklave“ vor, aber das bildliche Verschlucken prägt sich mir stärker ein. Wenn hier die Checkpoints geschlossen sind, wird dieses Gebiet gewissermaßen zu einem schwarzen Loch.
Innen/Außen – Oben/Unten – Offen/Geschlossen
Wir besuchen eine Familie in ihrem Haus, am äußersten Rand eines Dorfs. Orte, so wie ich sie sonst kenne, fransen irgendwann aus, die Häuserdichte nimmt ab, irgendwann gelangt man ans letzte Haus an einer Straße, und dann kommt lange Zeit nur Straße und unbebautes Land, bis das nächste besiedelte Gebiet anfängt – da steht dann ein Schild, das anzeigt, hier hört der Ort mit diesem Namen auf und ein anderes, das mir sagt, hier fängt ein anderer Ort mit diesem anderen Namen an. Der Dorfrand hier ist anders. Das letzte Haus ist rundum von einem Zaun mit Stacheldraht umgeben. Über der Einfahrt ist eine Art Tor aus Beton, dort und am Zaun mehrere Überwachungskameras, am Tor befestigt eine gelbe Schranke aus Metall. Die Schranke ist offen, wir gehen die Einfahrt hoch. Kinder kommen uns entgegen, vom Haus aus schließlich auch der Vater der Kinder. Das Haus steht am Dorfrand und direkt darum herum, auf der anderen Seite des Zauns, befindet sich eine israelische Siedlung. Meine Begleiterin sagt zu mir: „Die Soldaten sind da unten“, ich stutze und verstehe: Unter der Hauseinfahrt verläuft eine Straße für Siedler. Direkt unter uns ist ein militärischer Kontrollpunkt. Wieder zeigt sich diese vertikale Gliederung des Raums. Wo wir stehen, ist Sperrgebiet für Israelis; direkt unter uns ist Sperrgebiet für Palästinenser. Auf einer zweidimensionalen Karte müsste ein- und derselbe Punkt zu zwei territorialen Einheiten gehören. Am Anfang von Simmels Raumsoziologie steht die Ausschließlichkeit des Raums. Insbesondere für den territorialen Raum des Staates gilt, dass er „solidarisch“ mit Grund und Boden ist und insofern exkludierend wirkt. Hier haben wir es dann vielleicht mit einer verdoppelten Ausschließlichkeit zu tun, mit dem Auf- und Übereinander von territorialisierten Schichten. Ich schaue durch den Metallzaun nach unten und sehe die Soldaten, traue mich aber nicht, sie zu fotografieren. Stattdessen fotografiere ich die Überwachungskamera, die mich gerade aufnimmt.
Ich rede kurz mit dem Besitzer des Grundstücks: Wie lange wohnt er hier schon? Schon immer, er ist hier aufgewachsen, hat das Haus von seinen Eltern übernommen. Wie ist das, hier zu wohnen? Die Siedler werfen manchmal Steine rüber, erzählt er, rufen und schreien. Und das gelbe Tor an der Einfahrt und die Kameras? Das Tor wird manchmal geschlossen, dann kann die Familie nicht rein oder nicht raus, je nachdem. Die Kameras sind ihm egal, er macht ja nichts Verbotenes, er wohnt hier einfach mit seiner Familie, ganz normal. Ob er schon mal darüber nachgedacht hat wegzugehen, frage ich. Er lacht – nein, natürlich nicht, das ist sein Zuhause. Ich schäme mich ein bisschen für meine Frage und bin gleichzeitig überrascht über die Antwort. Wie ich überhaupt überrascht bin darüber, mit wieviel Gleichmut hier viele der Situation des permanenten Ein- und Ausgegrenztseins begegnen. Ist das nur meine Sichtweise und blende ich vielleicht vieles an Ärger und Aggression aus? Möglich. Aber das Aushalten, das Bleiben, das Verweilen auf Grund und Boden und das Beharren auf das eigene Zuhause erscheint mir als subtile, alltägliche Form des Widerstands gegen die Zersplitterung, Verdopplung und Besatzung des Raums.
Hannah Wolf, die am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam promoviert und am SFB 1265 „Re-Figuration von Räumen“ assoziiert ist, berichtet in diesem Blogbeitrag von ihrem Aufenthalt im Westjordanland. Das Leitmotiv ihrer Reise sind dabei die Raumverhältnisse zwischen Innen/Außen, Oben/Unten und Offen/Geschlossen.