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Über Raum und Zeit. Im Gespräch mit Fraya Frehse

25. Oktober 2019

Fabian Gülzau & Julia Fülling: Hallo Fraya, möchtest Du dich unseren Leserinnen und Lesern zu Beginn kurz vorstellen?

Fraya Frehse: Ich bin Professorin für Soziologie, insbesondere Stadt-, Raum- und Alltagssoziologie, an der Universidade de São Paulo und mit einem Forschungsstipendium für Alumni der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für sechseinhalb Monate zu Gast am Sonderforschungsbereich 1265.

In meinem hiesigen Forschungsvorhaben geht es um eine theoretische Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Soziologie, insbesondere die deutsche Soziologie, die Rolle der Zeit bei der Produktion und Konstitution von Raum konzeptualisiert. Es ist also ein sehr abstraktes Thema. Für mich war es sehr gut am SFB zu sein, weil hier mehrere Forscher und Forscherinnen zu Zeit und Raum arbeiten, insbesondere Gunter Weidenhaus, Nina Baur und Gabriela Christmann. Martina Löw und Hubert Knoblauch beschäftigen sich mit der Konstitution oder Re-Figuration von Räumen, und dann kommt dieses Thema der Zeit hinzu.

Ich habe es während meiner Zeit hier sehr geschätzt, mich vor Ort mit diesen Forschern und Forscherinnen austauschen zu können. Man könnte natürlich sagen, dass der Austausch auch außerhalb des SFBs stattfinden könnte. Warum also unbedingt am SFB? Aber genau das war der Vorteil: Dadurch, dass hier nicht nur die Professoren und Professorinnen, sondern eben auch Ihr [die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen], Studierende, und so weiter sind, hatte ich ganz andere Möglichkeiten. Alle hier beschäftigen sich mit Dynamiken des Raums. Diese Möglichkeit des Austauschs war für mich sehr schön.

Fabian & Julia: Du hast ja schon länger diesen Außenblick auf die deutsche Stadtsoziologie und bereits etwas zu der Eigenlogik der Städte publiziert. Das war damals zunächst eine deutsche Diskussion. Jetzt bist Du wieder beim SFB und beschäftigst dich mit der Re-Figuration von Räumen. Woher stammt dein Interesse an der deutschen Stadtsoziologie?

Fraya Frehse: Meine Fragestellungen in Bezug auf die deutsche Soziologie ergeben sich immer aus meiner Auseinandersetzung mit den brasilianischen Sozialwissenschaften. Dort sind wir sehr gut, wenn es um Stadtsoziologie geht, aber eine Raumsoziologie existiert so gut wie gar nicht. Daher versuche ich zum einen, diese Perspektive dort einzubringen.

Zum anderen erkenne ich auch insbesondere in der deutschen Stadtsoziologie wichtige Erkenntnisse/Ergebnisse für die brasilianischen Sozialwissenschaften. Denn in meinem Land ist eben empirische Stadtforschung hochqualifiziert; d. h. wir Forscher und Forscherinnen werden intensiv geschult darin, dieses Land empirisch zu erkunden. Wenn man das nicht macht, wenn man sich sozusagen in den Elfenbeinturm der Theorie einschließt, dann wird man dieses Land nicht verstehen, denn es ist gleichzeitig westlich und nicht westlich. Eben deswegen war ich zum Beispiel auch anderthalb Jahre ethnographisch auf den Straßen und öffentlichen Plätzen in der Innenstadt von São Paulo unterwegs. Dort habe ich eine Ethnographie zur Stadt aus dem Blickwinkel des Alltags der Obdachlosen, Straßenhändler, Straßenprediger, Straßenhandwerker und -künstler betrieben.

Vor diesem Hintergrund hängt mein Interesse für die deutsche Stadtsoziologie eben auch damit zusammen, dass ich in Brasilien stark damit beschäftigt war und es immer noch bin, wie man diese absolut komplexe, zugleich westliche und nicht westliche Empirie konzeptualisieren kann, ohne einfach Theorien, welche in Europa für die hiesige Realität entwickelt wurden, unreflektiert zu übertragen. Eben dies passiert in der brasilianischen Stadtsoziologie oft: sie produziert faszinierende empirische Daten, die die Differenzen zwischen Brasilien und der westlichen Welt dokumentieren. Aber wenn es darum geht, diese Differenzen zu erklären, dann greift man allzu oft paradigmatisch auf Georg Simmel, Max Weber, auf Jürgen Habermas zurück, die eine andere Gesellschaft vor Augen hatten, als sie ihre Theorien entwarfen.

Nun ist die deutschsprachige Stadtsoziologie zwar empirisch auch sehr aktiv, doch die Konzeptualisierungsarbeit an der deutschen Stadtrealität ist meines Erachtens empirisch besser „verwurzelt“ in dem soziokulturellen Boden eben dieser Wirklichkeit.

Deswegen bemühe ich mich seit meinem ersten Forschungsaufenthalt in Berlin im Jahre 2010, als Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung, darum, diesen Perspektivwechsel zwischen Deutschland und Brasilien auszuüben.

Fabian & Julia: Du hast schon erwähnt, dass dich vor allem die Re-Figuration von Räumen und Zeit interessiert. Wir würden gerne von dir wissen, was Re-Figuration von Räumen für dich bedeutet, gerade jetzt, wo Du den SFB kennengelernt hast.

Fraya: Ich sehe den Ansatz der Re-Figuration von Räumen als einen theoretischen Ansatz, der aus einer bestimmten Zeitdiagnose entstanden ist. Es geht um die Veränderung der räumlichen Verhältnisse auf der ganzen Welt ab den 1960er und 1970er Jahren. Und die drei Hypothesen sind Mediatisierung, Translokalisierung, Polykontexturalität. Das heißt: junge räumliche Dynamiken, die man im Prinzip in der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Literatur verstreut finden kann, werden am SFB zusammen betrachtet und konzeptualisiert.

Fabian & Julia: Hier am SFB ist ja Interdisziplinarität immer ein wichtiges Thema. Wie hast Du das interdisziplinäre Arbeiten hier wahrgenommen?

Fraya Frehse: Ich arbeite in Brasilien auch viel mit Architekten und Architektinnen und Stadtplanern und Stadtplanerinnen zusammen. Und was ich persönlich ganz toll finde, ist diese Möglichkeit, mit den Forschern dieser Disziplinen zusammenzukommen und sich auszutauschen.

Im Alltag des SFB arbeitet jeder für sich, aber es gibt besondere Momente der Interdisziplinarität, zum Beispiel das Plenum: da kommen alle zusammen. Und zuletzt war ich viel mit Ignacio Castillo Ulloa und Nina Baur in Kontakt, mit Angela Million und Jörg Stollmann im Rahmen eines Forschungsvorhabens. Meines Erachtens ist das Beste eben die Möglichkeit des live-Austauschs, des face-to-face Kontakts. Das muss nicht jeden Tag passieren oder ganz intensiv, aber am SFB besteht eben diese Möglichkeit – und auch für Studierende ist das toll. Du sitzt hier und weißt, Du kannst dich einfach mit anderen auf einen Kaffee verabreden. Und dies obgleich wir in einer völlig digitalisierten oder mediatisierten Welt leben und oft denken, man könne alles per E-Mail oder Skype erledigen.

Dazu muss ich noch erwähnen, dass ich ausgebildete Anthropologin bin. Ich habe meinen Master und meinen Doktor in Sozialanthropologie gemacht und bin dadurch sehr sensibel für die teilnehmende Beobachtung. Das heißt, meine Zeit hier war für mich auch eine teilnehmende Beobachtung zu dem, was es bedeutet, heutzutage in einem wissenschaftlichen Forschungszentrum zu Raum in Deutschland zu sein. Insbesondere zu Raum in der Soziologie und gleichzeitig im architektonischen und stadtplanerischen Sinne, und dann eben auch in der Geografie und den Kommunikationswissenschaften. Diese ganzen Bereiche, die hier zusammenkommen – das live zu beobachten, war ganz toll. Da merkt man – und das war das Schöne in dieser Zeit hier –, dass das Forschen nicht nur in den Büchern passieren kann, sondern eben auch live, weil man einfach Teil dieser Atmosphäre ist.

Fabian & Julia: Du verlässt uns ja leider bald schon wieder, deswegen würden wir noch gerne wissen, was Du aus dem SFB mitnimmst, nach Brasilien zurück und was Du uns gerne hierlassen würdest?

Fraya Frehse: Was mich in diesen Monaten sehr positiv beeindruckt hat und was ich sehr gerne nach Brasilien an die Uni, wo die Situation momentan so schwer ist, mitnehmen würde, ist, wie Ihr es schafft, inmitten der ganzen Differenzen, die Ihr unter Euch habt, Projekte zusammen zu konkretisieren. Wenn Ihr Euch zusammensetzt und entscheidet, etwas zusammen auf die Beine zu stellen – beispielsweise ein Forschungsprojekt oder ein Interview, einen Workshop oder eine Konferenz, wie gerade die Summer School des Graduiertenkollegs –, dann macht Ihr das ganz zielstrebig, egal wie unterschiedlich ihr denkt – „regardless of the various points of view“, oder ob Ihr jemanden persönlich mögt oder nicht. Ich finde das sehr anregend. Für Euch mag das ganz eindeutig klingen, aber es ist nicht überall so. Das hat sicher auch viel mit dem Training in Interdisziplinarität zu tun, den ihr hier im SFB erfahrt; damit, dass Ihr immer wieder dazu gebracht werdet, miteinander zu kommunizieren. Die Architekten sind sehr visuell, die Soziologen dagegen sehr theoretisch, da muss man irgendwie einen gemeinsamen Nenner finden.

Und was ich gerne hierlassen möchte: Zum einen bin ich jetzt dabei, ein working paper für die SFB-Reihe zu beenden. Dessen Titel lautet „On the temporalities and spatialities of the production of space”. Andererseits war ich hier die ganze Zeit total offen für Gespräche und Austausch, habe an Forschungsvorhaben teilgenommen, habe in dieser Zeit in Berlin und in Deutschland viele Vorträge gehalten. Ich hoffe, dass Euch das irgendwie etwas bringt. Oder, dass wir diesen Austausch fortsetzen. Die Situation in Brasilien ist sehr schwierig, aber wenn jemand von Euch eine Zeit in Brasilien verbringen möchte, freue ich mich, Euch aufzunehmen. Ihr seid alle herzlich eingeladen.

Fabian & Julia: Das ist sehr freundlich. Und hast Du das Gefühl, wir haben noch einen blinden Fleck, wo wir vielleicht noch mehr hingucken müssten, in dieser Re-Figuration von Räumen? Etwas worauf wir noch stärker fokussieren sollten?

Fraya Frehse: Ich finde, die große Herausforderung des SFB ist die empirische Plausibilität, wie es Hubert Knoblauch auch betont. Denn im Prinzip geht es ja um eine Zeitdiagnose, und man möchte eine Sozialtheorie entwickeln, die empirisch sensibel ist. Und das ist eben die große Herausforderung: Wie macht man das? Ihr habt ja – und wisst das besser als ich – „all over the world“ empirische Felder, und Wir wissen, dass das nicht einfach ist. Aufgrund meiner anthropologischen Ausbildung arbeite ich stark qualitativ, ich arbeite viel zu Körpersprache. Wenn Du in Brasilien die Körpersprache und das Schweigen und die Gesten nicht verstehst, dann verstehst Du gar nichts. Andererseits sind hier in dieser (deutschen) Gesellschaft Wörter sehr wichtig, die Leute sprechen, sie schreiben, sie lesen. Und es gibt Gesellschaften, die nicht so sind. Also besteht die Notwendigkeit einer methodischen Ausbildung, um mit diesen empirischen Differenzen umzugehen und sie im Hinblick auf die „Re-figuration von Räumen“ zu konzeptualisieren. Ich glaube, dies ist die große Herausforderung des SFB.

Fabian & Julia: Vielen Dank für das Gespräch.

Fraya Frehse, die an der Universidade de São Paulo eine Professur für Soziologie (insb. Stadt-, Raum- und Alltagssoziologie) hält, war vom 15.02. bis zum 31.08.2019 Gastwissenschaftlerin am SFB 1265. Wir haben sie am Ende ihres Aufenthaltes interviewt. Im Gespräch berichtet Fraya Frehse unter anderem von ihren Erfahrungen am SFB und ihrem Blick auf die deutsche Stadtsoziologie.