Und was ist mit dem Hausmädchen?
Mit einigem Enthusiasmus berichten Institutionen wie die Weltbank von einer neuen „internationalen Mittelschicht“, deren Angehörige der Armut endgültig entkommen seien. Das Teilprojekt A05 „Zuhause“ schaut sich dieses Phänomen genauer an und untersucht die Lebensräume der Mittelschicht in Kenias Hauptstadt Nairobi. Die Forscher Jochen Kibel und Makau Kitata müssen auf Ereignisse aus der kolonialen Vergangenheit zurückgreifen, um ihre ersten Erkenntnisse zu erklären
Brenda Strohmaier: Was wisst Ihr bereits darüber, wie die kenianische Mittelschicht wohnt?
Makau Kitata: Zunächst sagen sie zu ihrem Heim nicht „home“ sondern „house“, also nicht Zuhause sondern Haus. Mittelschicht in Kenia bedeutet oft soziale Mobilität im wörtlichen Sinne, da die Menschen aus ländlichen Gebieten in die Stadt ziehen, um dort zu arbeiten. Sie werden dann sagen, dass es eine Errungenschaft ist, ein „House“ in der Stadt und ein „Home“ auf dem Land zu haben. In Kenia versteht jeder, was das bedeutet, das ist wie ein Naturgesetz.
Mittelschichtsviertel in Nyayo Highrise in unmittelbarer Nähe des Nairobi-Damms und der informellen Siedlung Kibera.
B.S.: Und dann verbringen sie ihre gesamte Freizeit auf dem Lande?
M.K.: Nicht unbedingt. Aber sie wollen sich dort zur Ruhe zu setzen. Und das Zuhause auf dem Land ist der Ort, in den man viel investiert, wo man seinen Status zur Schau stellt. Dorthin lädt man auch seine Freunde ein. Stadtmenschen hingegen treffen sich lieber in einem Café, dann zieht sich jeder in sein eigenes Haus zurück. Wenn man in Nairobi durch die Mittelklasse-Siedlungen fährt, sieht man meist nur die Dächer der Häuser, alles andere ist hinter Mauern versteckt.
Jochen Kibel: Es scheint auch so zu sein, dass die Ästhetik in den Stadthäusern nicht so einen hohen Stellenwert hat wie zum Beispiel in Deutschland. Oder vielleicht ist sie auf eine andere Weise wichtig. Das werden wir noch herausfinden.
M.K.: Das Interessante ist, dass jetzt eine neue Generation von Menschen groß wird, die in diesen Stadthäusern geboren wurde und diese Orte ihr Zuhause nennt.
J.K.: Das bringt gut auf den Punkt, worum es dem SFB 1265 hauptsächlich geht, nämlich um solche Konflikte zwischen verschiedenen räumlichen Orientierungen. Es ist derselbe Ort, aber mit ihm verbunden sind sehr unterschiedliche und manchmal sogar gegensätzliche räumliche Identifikationsmuster.
B.S.: Ihr besucht für Eure Forschung Menschen in deren vier Wänden. Was genau wollt Ihr dort herausfinden?
J.K.: Wir untersuchen den Prozess des „Home Makings“, der uns wiederum hilft, das „Self Making“ besser zu verstehen. Wir wollen wissen, welche Orte für die Identität eines Menschen entscheidend sind. Die Idee ist nicht nur, die Leute ihre Lebensräume beschreiben zu lassen, sondern auch Dinge zu beobachten, die offensichtlich vorhanden sind, aber die sie nicht erwähnen.
M.K.: Wenn man zum Beispiel jemanden in Nairobi fragt, wie viele Personen in seinem Haus leben, könnte man die Antwort bekommen: „Ich, mein Mann und unsere Kinder.“ Wer nicht genannt wird, ist das Hausmädchen, selbst wenn diese mit der Familie zusammenlebt.
B.S.: Wie kann man so eine wichtige Person einfach vergessen?
M.K.: Das fragen wir uns auch. Ein Grund mag sein, dass sie kein eigenes Zimmer hat, das ist nicht vorgesehen. Die meisten Haushalte haben ein Hausmädchen, aber keinen eigenen Raum für sie. In Nairobi ist es Tradition, dass man Menschen bei der Planung vergisst. Die Stadt wurde in der Kolonialzeit als ein Ort für Weiße und Asiat*innen konzipiert. Schwarze Nigerianer*innen sollten dort nicht wohnen. Aber dann wurden sie als Arbeitskräfte gebraucht, vor allem für den Bau der Eisenbahn. Es wurden Junggesellenquartiere gebaut, riesige Gebäude mit Einzelzimmern. Und diese Junggesellen heirateten und brachten Frauen in die Stadt und an diese Orte. Als die Bevölkerung weiterwuchs, wurde es dort enger und enger.
J.K.: Dass die schwarzen Bewohner*innen von Nairobi ihr eigentliches Zuhause auf dem Land sehen, rührt also auch einfach daher, dass es ihnen brutalerweise nicht erlaubt war, in der Stadt daheim zu sein. Erst nach der Unabhängigkeit im Jahr 1963 durften sie sich auch in Nairobi niederlassen. Dennoch blieb Nairobi der Ort, an dem man lediglich arbeitet. Der Ort zum Leben und für den Ruhestand war immer noch das Landesinnere.
B.S.: Warum verwendet Ihr eine westliche Kategorie wie Mittelschicht, um eine afrikanische Gesellschaft zu untersuchen, die von unterschiedlichen Strukturen geprägt ist?
J.K.: Du hast Recht, dieser Diskurs, der vor allem von der Weltbank propagiert wird, ist ein klassisches europäisches Narrativ. Es beschreibt die gesellschaftliche Entwicklung als einen linearen Prozess. Das ist natürlich höchst fragwürdig und wurde bereits vielfach kritisiert. Auch unser Projekt kann als kritische Intervention in diesen Diskurs gesehen werden. Wir wollen ein differenzierteres Bild zeichnen, statt nur zu sagen: „Okay, die holen jetzt auf, und dann sieht Nairobi irgendwann so aus wie Berlin.“
B.S.: Makau, du bist Dozent für Literaturwissenschaft. Was hast du gedacht, als Jochen mit seinem Projekt und dieser ganzen Raumtheorie an dich herangetreten ist?
M.K.: Es war spannend, Literatur mit Raum in Verbindung zu bringen. Plötzlich erschien die Fiktion viel relevanter für das reale Leben. Und mir fiel auf, dass es auch in Kenia eine wachsende Anzahl von literarischen Werken über den Raum gibt. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Orte, die die Menschen ihr Zuhause nennen, bedeutsam dafür sind, wie sie sich selbst sehen und definieren. Eines der meistgelesenen zeitgenössischen kenianischen Bücher ist „One Day I Will Write About This Place“ von Binyavanga Wainaina. Es ist eine Geschichte aus der Mittelschicht, die davon handelt, wie der Autor als Sohn eines kenianischen Vaters und einer nicht-kenianischen Mutter aufwuchs und versuchte, seine Identität zu finden.
J.K.: Raumtheorie und Literaturwissenschaft gehören insofern zusammen, dass materielle Veränderungen mit einer völlig neuen kulturellen Produktion von Texten, Filmen und Fernsehserien einhergehen, die urbanisierte Stadtbewohner und andere urbane Phänomene der Mittelschicht porträtieren. Wir arbeiten in diesem Zusammenhang mit dem SFB Afronovela-Projekt zusammen. Es wird für uns interessant sein zu sehen, wie die kulturellen Produkte selbst den gesellschaftlichen Wandel in Nairobi widerspiegeln und wie sie dazu beitragen, Räumen neue Bedeutungen zu geben.
B.S.: Was ist mit den Hausmädchen in all diesen Produktionen? Gibt es nicht auch eine kenianische Mary Poppins?
M.K.: Du wirst feststellen, dass das Hausmädchen nie im Hauptstrang der Handlung vorkommt. Selbst wenn die junge Frau eine Beziehung mit dem Mann aus der Mittelschicht des Hauses eingeht, wird dies nur am Rande erwähnt, da es die Funktionsweise des Hauses kaum beeinflusst. Die Literatur vermittelt ein differenziertes Verständnis dafür, wie einige dieser unsichtbaren Dinge im Haus tatsächlich die gängige Sichtweise auf unsere Häuser in Nairobi beeinflussen.
Autor*inneninformation:
Dr. Jochen Kibel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1265 und leitet das Projekt A05 „Zuhause“.
Dr. Makau Kitata ist Dozent an der Fakultät für Literatur an der Universität von Nairobi.
Dr. Brenda Strohmaier ist Journalistin, promovierte Stadtsoziologin und arbeitet derzeit als Pressereferentin für eine Abgeordnete im EU Parlament.