Von der Schillingbrücke zur Warschauer Brücke
Diesem Beitrag vorausgegangen ist bereits der im Mai erschienene Spaziergangsbericht „Vom Lessing-Denkmal bis zum Landwehrkanal“.
Kontrovers und zahlreich ist die Mediaspree verhandelt worden und befindet sich im Entstehen, auf beiden Uferseiten. Die ›Waterfront‹ Berlins, explizit hier die Mediaspree ist zweifelsohne ein repräsentatives Investitionsprojekt und Kind ihrer Zeit: Die optimistischen wirtschaftlichen wie städtischen Entwicklungsprognosen im Zuge von Wiedervereinigung und Nachwendezeit offenbarten sich als veritabler Nährboden für öffentlich-private Partnerschaften zur Stadterneuerung. Das Anschutz-Areal und die Entwicklungen am Spreeufer von der Michaelbrücke flussabwärts bis zur Elsenbrücke sind in Folge des Mauerfalls im geeinten Berlin entstanden. Der (Verwertungs-)Druck auf großräumige innerstädtische Konversionsflächen, wie der hier zuvor gelebten innerstädtischen Mauerraumperipherie, machen jegliche informell-räumliche Aneignungen nachhaltig zunichte: Die 2,5km lange ›East Side Gallery‹ als Wagenburg hatte nur Bestand bis zum Sommer 1996 und den Tanzclubs rund um dem ehemaligen Schlesischen Güterbahnhof[1] sowie dem Wriezener Güterbahnhof ereilte ein ähnliches Schicksal. Einen städtebaulichen Rahmenplan, wie am Potsdamer/Leipziger Platz oder der im Bau befindlichen ›Europacity‹, gibt es für die Mediaspricht nicht, sondern lediglich ein städtebauliches Leitbild.
Im Rahmen meiner Masterthesis dieser leibsoziologische Spaziergang entstanden. Als qualitative phänomenologisch-interpretative Methode der Raumerfahrung des ›sich bewegens‹, in Tradition des ›Gehen‹ Wilhelm Heinrich Riehls (*1823–1897), dem ›Flanieren‹ Walter Benjamins (*1892–1940) oder dem ›Dérive‹ Guy Debords (*1931–1994) stellt Lucius Burkhardts (*1925–2003) ›Spaziergangswissenschaft‹ hier den zentralen Ausgangspunkt dar. Elementar ist seine Grundannahme, dass sich zwischen „Spaziergänger[:in] und […] Betrachtungsfeld […] ein System“ einstellt, welches „die Betrachtung steuert, das von der Betrachtung auf das Objekt zurückwirkt“ (Burckhardt, 2008, S. 258). Burckhardt verweist hier also auf das dialektische Verhältnis von Subjekt-Objekt-Relationen eines Karl Japsers, bei dem er promovierte. Die menschliche Wahrnehmung ist stets a priori durch vergangene Wahrnehmungen bedingt, also durch Erfahrungen und Imaginationen (ebd., S. 259). Das Ziel dieser Methode ist es, „Eindrücke zu sammeln und zu eindrücklichen Bilderketten aufzureihen“ (ebd., S. 265) um unentdeckte Impressionen, Objekte und Konstitutionen der Landschaft erfahrbar zu machen, sie zu dokumentieren und in den analytischen Diskurs einzubinden. Mittels Digitalkamera, Smartwatch (mit ›Aktivitätsaufzeichnung‹), Smartphone (und über den gesamten Spaziergang aufzeichnender Memofunktion) sowie einseitigem Headset begab ich mich auf Exploration eines historisch signifikanten Ortes, dem ehemaligen Mauerraum rund um das ›Anschutz-Areal‹ bzw. der Mediaspree.
Ich beginne meinen Spaziergang nicht an der Schillingbrücke, sondern flussabwärts an der Michaelbrücke an einem wechselhaften Donnerstagmittag im Sommer 2022. Die Mauer verlief hier nicht entlang, sondern auf der diesseitigen Uferseite von der Schilling- bis zur Oberbaumbrücke. Ich realisiere, dass ich die Strecke bis zur Oberbaumbrücke allenfalls mit dem Auto oder Fahrrad transitiert bin, nicht jedoch per pedes. Die in beide Fahrtrichtungen zweispurige Straße mit Mittelstreifen führt mich an einem weiß verkleideten Zaun entlang und preist sich als Graffiti-Visitenkarte an. Plötzlich erschließt sich mir jedoch die Verkleidung: Ein Restaurant kündigt sich durch den verspielten Eingang im typischen ›Berliner Bretterverschlag-Club-Stil‹ an und ist der Bar25/ Kater zuzuordnen, die nebenan auf dem ehemaligen BSR-Grundstück den ›Holzmarkt 25‹ etablierten. Im Schatten der Stadtbahnbrücke wird mir die Frequenz des fließenden Verkehrs bewusst, denn der Resonanzkörper verstärkt jedes Motoren- und Reifenabrollgeräusch. Wieder unter ›freiem Himmel‹ erkenne ich am Horizont schon die Hochhausbaustellen. Die mit Wandgemälden versehenen Architekturen des Holzmarktes durchbrechen den ausgrenzenden (verkehrs-)infrastrukturellen Charakter der Umgebung: Verkehrsflächen, Tankstelle, Autowaschanlage sowie Gasag-Trafoarchitektur. Vor dem Holzmarkt sind einige Personen am Fotografieren, sich unterhalten oder strömen neugierig gen Ufer – der gegenüberliegende Gehweg ist verwaist. Die an den Holzmarkt grenzende Baulücke offenbart die Hotelbaupläne des Holzmarktes. Weiter gen Süd-Osten flussaufwärts reihen sich perlenartig solitäre Baustrukturen aneinander. Am Stralauer Platz bestätigt sich die Dominanz der Verkehrsinfrastrukturen: KFZ-Verkehrsflächen, Parkplätze und Parkhäuser, Gleistrassen, Geradlinigkeit, Straßenbegleitgrün und wenige Querungsmöglichkeiten. Ich erblicke den Ostbahnhof und einen Bürokomplex der Deutschen Bahn. Ist diese Konstellation kategorisch für Transiträume Berlins? Ob Potsdamer Platz, Hauptbahnhof oder Ostbahnhof, die Deutsche Bahn verortet sich immer über den Bahnhof hinaus mittels Bürokomplex. Vom Ostbahnhof strömen zahlreiche Personen im Takt der Ampelphasen in Richtung Kreuzberg. Ich folge ihnen auf der Suche nach Mauerspuren zur Schillingbrücke. Hier verweist wenig auf Vergangenes. Ich werfe einen Blick auf die ›Waterfront‹, das städtebauliche und architektonische ›Potpourri‹ entlang beider Uferseiten wirkt diffus. Der Mercedes-Stern auf dem Neubau der Vertriebszentrale, nachdem sich Daimler dem Potsdamer Platz 2007 entsagte, dreht sich unbeeindruckt um die eigene Achse. Auf dem Weg zurück zum Stralauer Platz passiere ich den im Gebiet ›gewanderten‹, besser verdrängten, Hip-Hop Club ›Yaam‹. Ein Pärchen versucht an den bunt-lackierten Holzlatten vorbei auf das Gelände zu blicken. Aus einiger Entfernung dringt sich mir das Immobilienscout24 Logo auf – wollte ich nicht auch bald umziehen? Am Stralauer Platz fällt mir der umzäunte etwa 150 Meter lange Mittelstreifen auf. Dieser wird nun als Hundeauslaufgebiet genutzt für die vermutlich zahlreichen im Quartier ›absteigenden‹ Gäste, Wohngebäude erblicke ich nicht. Gegenüber der ›Hundewiese‹ mahnt die Tierschutzorganisation PETA auf großen Werbetafeln nicht mit zweierlei Maß im ethischen Umgang mit Tieren zu messen.
Ich wechsele zurück auf den spreeseitigen Gehweg und werde mit dem Verkehr entlang gläsern-spiegelnder Hotelfassaden ›gespült‹. Durch den eingezäunten Mittelstreifen verstärkt sich das Gefühl eines ›Bahnenraums‹. Bahnenraum deshalb, weil klar begrenzt linear Weg wie auf Schienen zurückgelegt wird – eine Flucht abseits des Pfades ist nicht möglich. Just nachdem der Zaun endet, wechsle ich auf die andere Straßenseite vorbei an einer im Schatten rastenden Gruppe. In unmittelbarer Reichweite sehe ich eine weitere Personengruppe unter Einhaltung nahezu coronakonformer Abstandsempfehlung auf einer Treppe sitzen. Vorbei an einer verwilderten Restfläche, zwischen Parkplatz und Parkhaus, offenbart sich hinter den schützenden Sträuchern ein Lager. Ein Mann schläft auf seiner Isomatte zwischen den weiträumig verteilten Getränkeflaschen, Plastikbehältnissen, sonstigen Abfällen und persönlichen Gütern. Mir war nicht bewusst, dass der Ostbahnhof sich derart zum Hotspot für Wohnungslose entwickelt hat. Angesichts regelmäßig geräumter informeller Lager, wie zuletzt an der Rummelsburger Bucht, verwundert mich die Verlagerung in andere städtische Räume nicht. Kurz darauf beobachte ich wie ein ›Parkmanager‹ vom Bezirksamt auf den Mittelstreifen wechselt und ein Foto von der hiesigen ›Ordnungslage‹ macht.
Mit Erreichen der ›East Side Gallery‹ beobachte ich von der gegenüberliegenden Seite das Gedränge zahlreicher Menschen auf den schmalen Gehweg, um die Mauer zu ›erleben‹. Direkt daneben befindet sich ein moderner, kürzlich realisierter Hotelbau. Neben dem Fußweg, auf dem ich mich befinde, wurde unter einem Baum eine informelle Gedenkstätte eingerichtet. Daneben liegt, ohne sich die Mühe zu machen, einen privaten Raum im Öffentlichen zu produzieren, ein schlafender Mann. Ich folge dem Weg parallel zum Postbahnhof und begegne zahlreiche adrett gekleidete Personen sowie Bauabeiter:innen, flankiert von eingezäunten Brachflächen. Zwei Männer echauffieren sich über einen Abfallberg zwischen geparkten Fahrzeugen. Der Baubetrieb bestimmt primär meine Wahrnehmung. Vor mir steigt der ›Spreeturm‹ empor neben dem im Bau befindlichen ›Upside Berlin‹: Ein Zwillingsturm-Bauprojekt, welches die neu produzierte Skyline an der Spree mitgestalten möchte und sich zu den anderen Hochhäusern der Mediaspree gesellt. Das Verkehrsbegleitgrün ist mittlerweile durch Pflaster abgelöst worden. An der Hochbaustelle befindet sich ein kleines Café, welches zur Mittagszeit gut besucht ist. In einiger Distanz sehe ich die gebietsdefinierende und bereits umbenannte Mehrzweckhalle: ›Mercedes-Benz Arena‹. Ein direkter Durchgang ist nicht möglich, die bildhaften wie belebten Zukunftsimaginationen der Architekt:innen, sogenannte ›Renderings‹ – mittels Computer synthetisierte Bilder auf Grundlage von Modellen/Entwürfen versprechen mir diesen aber in der Zukunft. Ich folge dem Straßenverlauf und finde mich am Rummelsburger Platz wieder: Ein Anwohner führt seinen Hund auf dem verdorrten Grün an der mehrspurigen Straße aus. Die Wohngebäude wirken bezogen, doch Namen auf den Klingelschildern sucht man vergeblich. Gegenüber befindet sich die East Side Gallery im ›Fluss‹ mit zahlreichen Tourist:innen(-gruppen). Diese interagieren angeregt mit der Berliner Mauer: sie posieren, fotografieren sie, berühren sie und kommunizieren. Ein plötzliches Loch kragt in der East Side Gallery und ich erinnere mich an die Proteste, die das Bauprojekt ›Living Levels‹ auslöste. Das Bauvorhaben auf dem ehemaligen Todesstreifen versetzte die Mauersegmente, um eine erschließbare Adresse zu erhalten. Damals empfand ich es nicht derart skandalös, jetzt irritiert es mich umso mehr. Die Macht des Geldes versetzt offenbar (historische) Mauern.
Ein Schritt durch die klaffende Mauerlücke, kaum finde ich mich in einen aufgeräumten Park wieder, den ich lediglich zirkulär beschreiten kann. Eine durchgehende Uferpromenade zum anderen Mauerpark ist noch nicht gegeben, soll aber nach Abschluss der Baumaßnahmen bestehen. Die erlebte Ordnung erinnert zwangsläufig an die planierte Leere des Todesstreifens zur Geländeübersicht. Die Rückseite der Hinterlandmauer ist ein Sammelsurium verschiedener Graffiti. Platzierte Kaugummis wie am Potsdamer Platz finde ich hier nicht. Das ›verdrängte‹ Mauerstück befindet sich in unmittelbarer Reichweite zur Lücke. Wenn ich von der leicht erhöhten Position auf die Mauer und die dahinter befindlichen Neubauten schaue, ergreift mich ein unwohles Gefühl: Die Zeit ist eine andere und dennoch wirkt die Situation beklemmend. Mang[1] den Tourist:innen haben sich an der Uferböschung im Schatten zwei der marginalisierten Personen, denen ich zuvor am Stralauer Platz begegnet bin, unter die Leute gemischt. Zu meinem Erstaunen begegne ich ferner keine diesem Milieu zugehörigen Personen. Die (sozialen wie räumlichen) Kontrollmechanismen der Neubauten und Tourist:innenströme scheinen sie ›fernzuhalten‹. Oder die Ordnung erscheint ihnen zuwider. Ich verlasse den Park und folge der East Side Gallery für einige Meter. Das im Bau befindliche Projekt ›Pier61|64‹ verengt den Gehweg im Zuge der Baustellensicherung und die East Side Gallery verschwindet hinter einer Verkleidung. Folglich sind sämtliche sichtbaren Mauersegmente und Kunstwerke verunstaltet. Die Baustellensicherung gleicht einem engen Tunnel, ist zur Straße hin geschlossen und schützt dementsprechend vor Sanktionen und (sozialer) Kontrolle. Die Verengung produziert hier (Un-)Ordnung. Ich wechsele die Straßenseite gen Norden, weg vom Ufer. Die Fassade des soeben passierten Neubaus ruft mir zu: „MOVE IN!“. An wen sich dieser Appell jedoch genau richtet, ist mir unklar: Mutmaßlich verfügen die meisten Passierenden entweder nicht über das notwendige ökonomische Kapital oder würden einen Einzug partout nicht in Erwägung ziehen. Die Frequenz der East Side Gallery weicht nach wenigen Schritten der geordneten, menschlichen Leere. Es ist ruhig, Verkehr ist in den Erschließungsstraßen nicht vorhanden. Die mich umgebenden Parkhäuser und Zalando-Bürogebäude wirken klinisch-steril und leblos. Ich passiere rückseitig abermals die Upside-Baustelle und finde ein verwaistes Eingangstor zum „Showroom“ des Bauprojekts in der ›hintersten Ecke‹. Einladend wirkt der Durchgang nicht: Die Tür steht zwar offen aber die Öffnungszeiten sprechen eine andere Sprache. Ich blicke kurz hindurch, sehe einen engen Weg entlang der Stadtbahnbögen und befürchte beim Betreten gleich ›zurechtgewiesen‹ zu werden. Entlang der Stadtbahnbögen vorbei an Brachflächen erinnert in der Kurve an der Mehrzweckhalle ein mobiler ›Kundenstopper‹ den Kraftverkehr daran, langsam zu fahren aufgrund querender Menschen. Beides ist nicht zugegen. Mit Erreichen der Mehrzweckhalle führt mein Blick vage auf die Spree hinunter über eine Fontänen-Wasserspielfläche, ›Mercedes Platz‹ bezeichnendem Tiefgarageneingang und zahlreichen ca. acht Meter hohen Entlüftungstürmen mit bunten digitalen Werbetafeln, die sekündlich das Angezeigte ändern. Umrahmt wird der Platz durch die ›bekannten‹ Angebote derartiger öffentlich-privater partnerschaftlicher Quartiersentwicklungen: Kino, Konzerthalle, Gastronomie- und Hotelketten. Die Restaurants sind zur Mittagszeit gut besucht und zahlreiche mit ›Bowls‹ und Salaten gewappnete Personen ziehen zielstrebig in die umliegenden Büros.
Beim Durchschreiten des Tiefgarageneingangs zwingt sich mir das großflächige urbane Wimmelbild auf. Es sagt mir in welche Richtung es nach Berlin geht, West wie Ost, und dass ich es doch ›leichtnehmen‹ solle. Ob der Ort jemals so heterogen und harmonisch selig sein wird wie das hier Dargestellte?
Kurz darauf stoße ich auf ein stählernes skulpturales Ambigram: ›Love/Hate‹. Ob das wohl eine unmittelbare Referenz zur Ortsbeziehung sein soll? Ich quere die Straße und die vor mir befindliche East Side Gallery wurde erneut durchbrochen und ermöglicht erst die Sichtachse vom Mercedes Platz auf die Spree. Die herausgelösten Mauerstücke stehen abermals im ehemaligen Niemandsland. Auf der Treppe hinab zum Ufer versammeln sich einige Tourist:innen, die sich ausruhen, unterhalten oder picknicken. Über ihren Köpfen hinweg schwebt für die vorbeirauschenden Fahrzeuge und passierenden Menschentrauben eine riesige LED-Werbetafel. Vom Kreuzberger Ufer pöbelt ein Graffiti „Fuck Mediaspree“ herüber. Der Park gleicht dem vorherigen: das Gelände ist geräumt, nur wenige Bäume spenden Schatten. Der zentrale Unterschied besteht im ›reinweiß‹ der Hinterlandmauer. Wie oft hier wohl überstrichen wird? Am Wasser entlang durchschreite ich das schmale Stück Mauerraum, an dessen Ufer einige Personen verweilen. Gegenüber des Beachvolleyballfelds, außerhalb der ehemaligen Sperrzone, markiert die Baulücke zwischen zwei Gründerzeitaltbauten die Einfahrt zum Betriebshof der Stadtreinigung. Entlang am Betriebshof in Richtung Stadtbahn breitet sich am Horizont das raumschiffähnliche-fensterlose Gebilde der ›East Side Mall‹ aus. Flankiert wird dieses vom hochkragenden gläsernen ›Stream Tower‹ sowie dem im Bau befindlichen ›EDGE East Side Berlin‹. Beide Wolkenkratzer sind bereits großflächig an Zalando (Stream) und Amazon (EDGE) vermietet. Zalando Interesse an der repräsentativen Wirkung der ›Waterfront‹ ist unbestreitbar, denn eine Vielzahl der im Quartier befindlichen Objekte sind an Zalando vermietet. Am Fuße der Mall, die mir seit ihrer Eröffnung 2018 noch keinen Anlass bot, sie zu besuchen, erscheint diese Typologie in mehrfacher Hinsicht antiquiert, in städtebaulicher Hinsicht sowie ökonomischer Hinsicht. Das die Mall nun ›zufällig‹ beidseitig von Unternehmen umrahmt ist, deren ›Kerngeschäftspraxis‹ die Verdrängung des (lokalen) Einzelhandels ist, kann nur als eine symbolische städtebauliche Kannibalisierung der vorherrschenden Konsumökonomie verstanden werden. Die an den Quartiersrändern platzierten glitzernd-emporsteigenden Firmenadressen des Anschutz-Areals stellen die visuelle Gebietsmarkierung dar und lassen es bereits aus der Distanz identifizieren. Handelt es sich tatsächlich um ein ›städtebauliches Konzept‹ oder ist es Ausdruck individueller, unternehmerischer Gewinn- wie Repräsentationsfantasien? Die Flügeltüren des Einkaufszentrums sind kaum in Bewegung. Ich schaue über gepflasterte Landschaften hinweg, in denen sich die wenigen platzierten Bäume geordnet dem Arrangement fügen. Während ich die gesichtslose Fassade der East Side Mall passiere, strömen mir einige Personengruppen zielstrebig vom S-Bahnhof Warschauer Straße kommend entgegen. Ich nehme den ›gestalteten‹ Treppenaufgang hinauf zur Mall und und werde zum Eingang geleitet, welcher definitiv nicht mein Zielort darstellt. Hier entdecke ich das East Side Mall Logo: Ein ›zwinkernder‹ Smiley in Anlehnung an die noch hiesige vorhandene und bereits vergangene Berliner Clubszene? Ich drehe mich um und die begrenzende Verkehrsinfrastruktur der Warschauer Brücke offenbart sich mir mittels vierspuriger Straße und Straßenbahngleisen. Just erinnere ich mich an die zahlreichen Zeitungsartikel, die sich hämisch über die Planungen des Einkaufszentrums und dessen Zugänge bzw. Erreichbarkeit äußerten. Ich kann beipflichten, die Warschauer Brücke macht ein Queren schwierig. Mein Ziel ist jedoch erreicht und ich wechsele die Straßenseite auf der Brücke, vorbei an der Tram-Haltestelle.
Die private Entwicklung der Mediaspree mittels Leitbildes und ohne Rahmenplanung, öffentlichen Realisierungswettbewerben oder anderen Planungs- und Beteiligungsverfahren im innerstädtischen Raum ist mitnichten unproblematisch. Der Versuch, mittels öffentlich-privater Partnerschaft die Planungen zu kommunizieren unterscheidet sich zum Partnerschaftsformat am Potsdamer Platz oder der Europa City. Die Partnerschaft ist weniger institutionalisiert: Im Zuge der Spreeraumplanungen und der finanziellen Beteiligung des BA Friedrichshain-Kreuzberg wurde die 2001 gegründete private ›Mediaspree GmbH‹ 2004 umgewandelt in das ›Regionalmanagement Mediaspree e.V.‹. Mit der Hoffnung auf mehr öffentliche Teilhabe in der städtebaulichen Entwicklung versuchte der Verein die Bedarfe, Interessen und Planungen zu kommunizieren. Mit nur geringem Erfolg, Widerstand war zahlreich – ›Mediaspree Versenken‹, Kampfbegriff an beiden Ufern. Hingegen nachhaltiger Entwicklung und dem verpflichtenden Charakter des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) ist die Mediaspree wesentlich durch häufig wechselnde Eigentümer:innenschaften gekennzeichnet mittels sogenannter ›Share Deals‹ sowie ›Forward Deals‹. Die fehlenden Realisierungswettbewerbe, trotz vermeintlicher Korrekturmechanismen wie dem Baukollegium des Berliner Senats, fördern ein ›geordnetes Durcheinander‹ und homogenisierte Nutzungen. Auch der 2008 durchgeführte Bürger:innenentscheid des BA Friedrichshain-Kreuzberg offenbarte sich als stadtpolitisch-demokratische Makulatur und führte spätestens mit der Eröffnung der ›O2 World‹ (jetzt ›Mercedes-Benz Arena‹) im September desselben Jahres zur Auflösung des Vereins. Man mag darüber streiten, ob privat-finanzierte Stadtentwicklung an solch prominent konfliktbeladenen Orten über derartig viel Gestaltungsmacht verfügen sollte, doch im Rahmen eines zunehmend neoliberalen Städtebaus muss auch die Frage verhandelt werden, inwiefern Stadtgestaltung in Verbindung mit Eigentum überdauert und verpflichtet. Welche Rolle spielen kurz- bis mittelfristige wirtschaftliche Interessen privater Akteure bei der Entwicklung solch symbolisch aufgeladener Brach- und Konversionsflächen wie dem ehemaligen Mauerraum Mediaspree? Ortsproduktion ist ein vielschichtiges Feld. ›Love/Hate‹ am Mercedes Platz symbolisiert wohl treffend die Beziehung zwischen ortsproduzierenden Prozessen und deren Genese. Geplante ortsproduzierende Maßnahmen funktionieren nicht ohne Individuen und deren Aneignungen. Es reicht nicht aus, Richtungsweiser zu geben, sondern Ziel sollte es sein ›anthropologische Orte‹ zu schaffen wie sie ein Marc Augé (1994) versteht, sodass sie identitätsstiftend, relational und historisch sind und nicht zum stets umetikettierten Gebilde und Arrangement werden. Gegenwärtig ist das Quartier im Werden, wenn auch bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen wurden, um eine gezielte Ortsrelevanz zu schaffen, wird bei Fertigstellung und Bezug der zahlreichen Gebäude mit Sicherheit mehr ›Place Making‹ betrieben. Welche Rolle hier wohl Erwartungserwartungen spielen? Die Mischnutzung mit vermeintlich überregionalen Angeboten (Mercedes-Benz Arena / Verti Musical Hall) stellt einen Versuch dar, Relevanz im städtischen Gefüge zu schaffen und somit (persönliche) ›Geschichten zu erzählen‹. Doch ohne scheinbar obligatorische farblich gestaltete Treppenläufe kommt auch dieses Quartier nicht aus – eine Quartiermarketingstrategie? Die East-Side Gallery funktioniert hier noch als größter touristischer Anziehungspunkt. Fragmentiert erscheint mir der Raum um die Mediaspree. Auch ohne materielle Barrieren, sind Grenzen wahrnehmbar die über Eigentumsverhältnisse hinausgehen und vornehmlich funktional sowie verkehrlich bestimmt sind. Ob jedoch die Mediaspree eine ähnliche Entwicklung wie der Potsdamer Platz erfahren wird, gilt es zu beobachten. Bisher wurden die kürzlich fertiggestellten (Bedarfs-)Planungen und Konzepte nicht aktualisiert, doch Zeit und Raum werden es sicherlich nicht unversucht lassen.
Über den Autor: Christopher Heidecke, Urbanist und Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1265. Er ist zuständig für die Wissenschaftskommunikation und Medienkoordination und begleitet den SFB 1265 seit dessen Initiierung. Seine Forschungsschwerpunkte sind qualitative Raumforschung, Mappings, integrative Stadtentwicklung, Stadterneuerung, Raumkonflikte und -aneignung sowie Wissenssoziologie.
Anmerkungen:
[1] Der Schlesische Bahnhof, heute als Berlin-Ostbahnhof bekannt, wurde im Verlauf seiner Ortsgeschichte mehrmals umbenannt und Gegenstand symbolischer Ortsrepräsentationen: 1842 „Frankfurter Bahnhof“, 1881 „Schlesischer Bahnhof“, nach DDR-Staatsgründung 1950 „Ostbahnhof“, 1987 „Hauptbahnhof“ und 1998 „Ostbahnhof“.
[2] Mang bedeutet im Niederdeutschen, wozu auch das Berlinerische zählt, ›zwischen‹.
Literatur:
Burckhardt, L., Ritter, M., & Schmitz, M. (2008). Warum ist Landschaft schön?: Die Spaziergangswissenschaft. Berlin: Martin Schmitz Verlag, 257–281.
Augé, M. (1994). Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/Main: Fischer.
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