Covid-19 und Putins refigurierter Verhandlungstisch
Der Verfall europäischer Demokratie in rechtspopulistische Autokratie wurde zu Recht als reaktionäres Resultat einer spannungsreichen Konfrontation zwischen einer neuen Logik globaler Vernetzung und einer alten Logik nationaler Territorialität gedeutet. Sei es Klimawandel, Covid-19 oder Migration – der gefühlt machtlosen Auslieferung an komplex-unsichtbare Abhängigkeit, Ansteckung und ‚Unterwanderung‘ setzen rechtspopulistische Bewegungen ein idealisiertes Trugbild nationaler Gemeinschaftsstärke, moralischer Zweifellosigkeit und Reinheit entgegen. Es ist ein raumsoziologisch bedeutsamer Konflikt zwischen einer vernetzten Logik entgrenzter Verbreitung und einer territorialen Logik repräsentativer Reinheit.
Zweifelsohne lässt sich damit auch die Haltung eines Autokraten wie Putin erklären, einem Bären reitenden Militaristen, der schon lange gegen europäische ‚Verweichlichung‘, die ‚Homo-Seuche‘, liberalen Kosmopolitismus, ‚schädliche‘ Presseäußerungen und den Verfall traditioneller Hierarchien ankämpft. Hier tritt tatsächlich ein klassisches Motiv von Faschismustheorien hervor: Die unerträgliche Anfälligkeit und Schwäche des eigenen Körpers, genauso wie Unsicherheitsgefühle und der Mangel an Gewissheit über die Welt werden verleugnet und überkompensiert, indem alles Zweifel Auslösende oder ,Verunreinigende´ brutal vernichtet wird. Wir möchten diesen Gedanken aufgreifen, um die These zu formulieren, dass die Covid-19-Pandemie eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Putin ausgerechnet jetzt eine Invasion der Ukraine versucht. Die These baut auf zwei raumsoziologischen Beobachtungen auf: Zum einen ziehen wir eine Parallele zwischen der Ausbreitung des Corona-Virus und der Funktionsweise liberal-demokratischer Medien, denn beide folgen aus Putins Perspektive einer Netzwerklogik, die mit Ansteckung, Unterwanderung und Schwächung des territorialen Ganzen gleichgesetzt wird. Zum anderen deuten wir Putins Streben nach einer absoluten territorialen Abschottung des russischen Mediensystems und seinen Angriffskrieg auf die Ukraine als territoriale Schließung und Reaktion auf eben jene negativ besetzte Netzwerklogik. Freie Medien und Meinungsäußerung sowie eine Westorientierung der Ukraine folgen in Putins Perspektive einer Netzwerklogik, die den ,gesunden und homogenen Volkskörper´ angreift, und sowohl in der Ukraine als auch in Russland brutal territorial eingehegt werden soll.
Ohne der Covid-19-Pandemie selbst irgendeine Ursächlichkeit zuzuschreiben, erklärt sich mit ihr möglicherweise der Zeitpunkt der Invasion. Denn die Pandemie folgt nicht nur genau jener vernetzten Ansteckungslogik, die Putins größter Feind ist. Sie ist auch eine Krankheit, die ihn als in die Jahre gekommenen Mann persönlich gefährdet. Covid-19 ist dabei gewissermaßen wie die von Putin empfundene liberal-demokratische Propaganda: Ihr unbemerktes Eindringen entzieht sich einer klar abgrenzbaren Kontrolle. Dass Putin diese Invasion der Corona-Viren sehr ernst nimmt, zeigt sich auch daran, dass er sich seit Beginn der Pandemie stark isoliert. Am ikonischsten für diese Einsamkeit und damit auch für seinen Kontaktverlust zur Wirklichkeit (der sich etwa in der massiven Fehleinschätzung der ukrainischen Situation vor der Invasion äußert), sind aber die seit der Pandemie extrem lang gewordenen Verhandlungstische, von deren Ende er zu seinen Anhänger*innen oder Gästen spricht.
Der aberwitzige Abstand, den Putin seit der Pandemie zu seinen Anhänger*innen und Gästen einhält, verbildlicht gleichzeitig auch Putins politische Paranoia und Unantastbarkeit. Die körperliche Distanz zu seiner Umgebung mag so mitunter auch seine geistige Entfremdung und eine Verschärfung seiner kaltblütig-resoluten Alleingänge begünstigt haben. Solche extrem langen Tische demonstrieren nicht nur Macht, sie schützen auch vor gefährlicher Nähe und erzeugen eine übersichtliche Klarheit. Als gestalterische Form sind Sie eine energische Abwehr der unübersichtlichen und unkontrollierbaren Raumlogik vernetzter ‚Unterwanderung‘.
Und so hat möglicherweise die Covid-19-Pandemie wegen ihrer strukturellen Ähnlichkeit zu den ohnehin verhassten politischen Unterwanderungen die Unterwerfungsfantasie und Aggression Putins gegen das postsowjetische ‚Chaos‘ zusätzlich befeuert. Wie sehr Putin mit der sowjetischen Logik territorial-hierarchischer Homogenität, Repräsentation und Disziplin verbunden ist, visualisiert sich auch an einem seiner militärischen Command and Control Centres, in dem er von erhoben-zentraler Position über den in Reih und Glied angeordneten, sich robotisch gleichenden Mitarbeitenden thront.
Um die Invasion der Ukraine zu erklären, wird zu Recht auf einen historisch legitimierten Imperialismus verwiesen. Neben dieser Logik eines Einflussgewinns ist jedoch raumsoziologisch beachtenswert, dass hier ein auch in Europa weitverbreitetes, strukturell dem Rechtspopulismus oder dem Verschwörungsdenken ähnliches Narrativ zum Tragen kommt, nämlich die unsichtbar-virtuelle und vernetzte Unterwanderung des aufrichtigen, reinen Körpers, vor der nur umfassende Kontrolle und territoriale Abschließung schützen kann. Freilich ist es nur aus Putins Sicht eine Abschließung, beruft er sich doch auf die ehemalige Zurechnung der Ukraine zum sowjetischen Russland. Erst aus Sicht der Kultur vernetzter Selbstbestimmung im Westen Europas wird diese Abschließung dann zum Imperialismus.
[1]Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/putins-innerer-machtzirkel-100.html.
[2]Quelle: https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2015/11/21/vladimir-putins-massive-triple-decker-war-room-revealed/.