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Stadt und Menschenansammlungen in Zeiten des Coronavirus: Anmerkungen zu Brasilien.

23. April 2020

Robertha Barros und Paulo Victor Melo schreiben über soziale Ungleichheit in Brasilien in Zeiten der Corona-Krise. Sie plädieren dafür, die Krise als Chance zum Umverteilen und Umdenken zu nutzen.  

Der Theologe und Philosoph Leonardo Boff schrieb jüngst, dass die Corona- Pandemie eine “einmalige Möglichkeit darstellt, unsere Lebensweise im gemeinsamen Haus [Schlagwort einer 2016 entstanden Initiative des nationalen Rats christlicher Kirchen Brasiliens] zu überdenken”[i].

Wir teilen diese Hoffnung und glauben, dass die flächendeckende Verbreitung von COVID-19 zu Anstrengungen seitens des brasilianischen? Staates und der Gesellschaft führen könnte, auch ein Umdenken in Bezug auf “unser gemeinsames Haus” unter spätkapitalistischen Bedingungen einzuleiten.    

Gerade mit Blick auf die Städte lässt sich für den brasilianischen Kontext konstatieren, dass bislang vor allem Konsumanreize das soziale Phänomen von „Menschenansammlungen“ befördern, selten jedoch der Kampf für Grundrechte. So ist etwa beim “Black Friday” zu beobachten, dass sich Menschenmassen unter Schubsen und Stoßen durch Einkaufszentren drängen und dabei “Nicht-Orte”[ii] im Sinne von Marc Augé bespielen, statt öffentliche Räume von Qualität entstehen zu lassen. 

Soziale Ungleichheit

Daten des IBGE (statistisches Bundesamt in Brasilien) weisen darauf hin, dass die ärmsten Teile der Bevölkerung in prekären Arbeitsverhältnissen (etwa 11,4 Millionen) und Arbeitslose (12 Millionen) von COVID-19 und seinen Folgen überproportional betroffen sind. Ihr Recht auf Mobilität wird nun im Gedränge des alltäglichen Bus-, Zug- und U-Bahnverkehrs eingeschränkt. Trotzdem entstehen immer noch große Menschenansammlungen in den Vierteln der Armen, die das Recht auf gesundheitliche Unversehrtheit gefährden. Nicht einmal am frühen Morgen, nicht in Krankenhäusern und auch nicht auf Pflegestationen ist Sicherheit möglich. Gleichzeitig ist das Grundrecht auf menschenwürdige Behausung für die Einwohner sozial schwacher, dicht besiedelter Quartiere ohnehin nicht gewährleistet.   

Allgemein ist in Brasilien eine starke Konzentration von Ressourcen, z.B. Infrastruktur und öffentlichen Diensten, an bestimmten Orten, den sogenannten “formellen” Bereichen, zu beobachten, obwohl dort nur ein kleiner Teil der Bevölkerung lebt, die Bevölkerungsdichte eher niedrig ist und die Einwohner vorwiegend aus den mittleren und höheren Einkommensschichten stammen. 

Die Stiftung Oswaldo Cruz (Fiocruz) hat deshalb Anfang April einen öffentlichen Appell zur Ergreifung von Hilfsmaßnahmen für gefährdete Bevölkerungsgruppen lanciert: „In einem von enormer sozialer Ungleichheit geprägten Land wie Brasilien müssen die sozialen Bedingungen jedes einzelnen Bereichs in den Blick genommen werden. Die Pandemie trifft nicht alle im selben Ausmaß und mit denselben Konsequenzen, weshalb selbstverständlich auch die Maßnahmen und Strategien der Eindämmung dem jeweiligen Kontext anzupassen sind. Bisher beziehen sich Maßnahmen zur Prävention fast ausschließlich auf die Lebensumstände der Mittelschicht: Quarantäne und Selbstisolierung in der eigenen Wohnung, Vermeidung von Menschenansammlungen, individueller Gebrauch von Desinfektionsgel und so weiter. Doch die Mehrheit der Bevölkerung hat all diese Möglichkeiten bekanntermaßen nicht“, so Nísia Trindade Lima, die Präsidentin der Stiftung.[iii]  

Bereits jetzt sind mehr als 40.000 Menschen in Brasilien mit COVID-19 infiziert und mehr als 2.500 Todesfälle bekannt, die Fallsterblichkeit wird derzeit auf 6,3 Prozent geschätzt. Doch die Dunkelziffern sind nicht nur in Brasilien hoch. Mathematische Modellierungen der Londoner Hygiene- und Tropenmedizinhochschule legen für Brasilien die elffache Zahl der offiziell gemeldeten Infizierten nahe. Auch Open Knowledge Brasil verweist darauf, dass 90 Prozent der Bundesstaaten und die Regierung Bolsanaro kaum Daten veröffentlichen, die es gestatten würden, die Ausbreitung der Pandemie in Brasilien detailliert nachzuvollziehen. Mehrere Indizien lassen eine hohe Dunkelziffer vermuten: ein enormer Anstieg der Fälle mit akuter Ateminsuffizienz in den Notaufnahmen der Krankenhäuser im Vergleich zu Vorjahreszahlen; die hohe Sterberate bei Menschen, die auf COVID-19 getestet wurden; starke Abweichungen der Zahlen von lokalen Meldeämtern und dem Bundesgesundheitsministerium über Todesfälle durch COVID-19, und nicht zuletzt die extrem geringe Zahl der Getesteten insgesamt (29 pro 100.000 Einwohner*innen). 

Race und Ethnicity

Die soziale Ungleichheit in Brasilien ist nicht von race und ethnicity zu trennen. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit (56 Prozent laut statistischer Bundesbehörde) ist aktuell am gefährdetsten. Sie sind zugleich jene Gruppe, deren Grundrechte am stärksten beschnitten werden. Neuere Erhebungen bestätigen, dass 44,5 Prozent der Schwarzen in Brasilien in Quartieren ohne grundlegende sanitäre Ausstattung leben (also ohne systematische Wasserversorgung, Abfallentsorgung, Abwasserleitung). In den zwei größten Städten Brasiliens, São Paulo und Rio de Janeiro, leben 18,7 Prozent bzw. 30,5 Prozent der schwarzen Bevölkerung in Behausungen weit unter jedem Standard (während der Anteil der weißen Bevölkerung hier nur 7,3 bzw. 14,3 Prozent beträgt). Diese Ungleichheiten bilden sich auch in der Pandemie ab: 23 Prozent mehr Schwarze als Weiße auf den Krankenstationen, eine um 33 Prozent höhere Sterblichkeitsrate durch COVID-19. In diesen Zahlen spiegeln sich nicht zufällige Verteilungsprozesse, sondern wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten auf globalem Niveau.

Fast 67 Prozent  der Brasilianer und Brasilianerinnen, die auf die (rudimentäre) staatliche Gesundheitsversorgung angewiesen sind, sind schwarz. Sie stellen gleichzeitig die Mehrheit der Patienten mit Diabetes, Tuberkulose, Bluthochdruck, Herz- und Nierenerkrankungen dar, die im Zusammenhang mit COVID-19 zur Hochrisikogruppe gehören. Diese Komorbiditäten hängen eng mit sozialen Umständen zusammen, vom Fehlen sanitärer Grundausstattung bis hin zu prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die diese (Vor-)Erkrankungen befördern.

Für uns bestätigen sich an dieser Stelle die Forschungen innerhalb des SFB 1265 “Re-Figuration von Räumen”[iv], dass das Krisenszenario von COVID-19 in einer von Ungleichheit und Spätkapitalismus geprägten Gesellschaft wie der brasilianischen ein Nachdenken über die extremen Spannungen zwischen verschiedenen Raumlogiken in einer globalisierten Welt umso dringender macht. Wie Hubert Knoblauch und Martina Löw[v] in diesem Blog aufzeigen, ist die soziale Dimension der Pandemie räumlich zu fassen. Sie verschärft gerade deshalb auch Interessenskonflikte. Das Konzept der Re-Figuration von Räumen wirft ein neues Licht auf die räumlichen Auseinandersetzungen und Spannungen, um die es in Brasilien geht. Dort zeigt sich deutlich, dass der urbane Raum in formelle und informelle Bereiche geteilt ist, in Zonen der Reichen und der Armen, die in einem Hochspannungsfeld miteinander ringen bis die Schwächeren verlieren. Die Produktionsmuster in brasilianischen Großstädten, die auf der strikten Trennung (und Merkantilisierung) von Räumen für Reiche und Räumen für Arme gründen, spiegeln einen strukturellen Rassismus, der soziohistorisch bedingte Ungerechtigkeiten beständig aufs Neue entstehen lässt.   

Konflikte um Räume

In den Konflikten in städtischen Räumen in Brasilien zeigen sich deutlich Spannungen und Widersprüchlichkeiten zwischen dem Recht auf Stadt und dem Recht auf Eigentum. In dieser Spannung verfestigen sich soziale Ungleichheiten. Der Geograf Milton Santos[vi] verweist in dem Zusammenhang auf die dominierende kapitalistische Grundordnung einer pervertierten Globalisierung, bei der Hegemonialkräfte (Finanzinstitutionen, multi- und transnationale Unternehmen), die nach globaler Mehrwertmaximierung streben, Territorien und Räume unterlaufen, indem sie hoch selektiv und spaltend agieren. Im selben Sinne warnt auch Mike Davis[vii] vor einer weltweiten Ghettoisierung durch den Anstieg von Massenarmut und eine Verschärfung sozialräumlicher Segregation urbaner Räume aufgrund von stadtplanerischen Regulierungen sowie Absprachen zwischen Staat und Immobiliensektor, die Exklusion befördern. 

Demgegenüber stehen die sogenannten „informellen“ Räume der Stadt, in denen ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung lebt. Dort haben die meisten Menschen kein oder nur ein geringes Einkommen. Das sind genau die Menschen, die nun am meisten unter der Pandemie leiden, weil sie über keinen eigenen oder nur ungenügenden Wohnraum verfügen und die materiellen Bedingungen nicht erfüllen, die die WHO und andere internationale (oder nationale) Organisationen zur Gesundheitssicherung empfehlen. Diese Menschen sind Arbeitslose, Arbeitskräfte im Bereich der informellen Ökonomie, Obdachlose und andere Schutzbedürftige, die tagtäglich ihre Grundrechte aufs Neue erkämpfen müssen. Die Journalistin Naomi Klein bezeichnet das Coronavirus als “mustergültige Katastrophe für den Katastrophenkapitalismus”, und erinnert daran, dass “in Zeiten großer Veränderungen das eben noch Undenkbare plötzlich Realität wird”.[viii]

Dies zeigt sich in der Coronakrise am Beispiel Irlands, wo die Regierung nun sechs Wochen lang Hilfsgelder an diejenigen verteilt, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. In Großbritannien wurde ein Maßnahmenpaket beschlossen, das die Übernahme von 80 Prozent des Gehalts der Arbeitnehmer*innen staatlicherseits beinhaltet, um Entlassungen zu verhindern. Deutschland, bekannt für seine strenge Sparpolitik, kündigt ein 800 Milliarden-Euro-Paket an, um die Wirtschaft zu unterstützen, wobei ca. 180 Milliarden Euro für Sozialausgaben eingeplant sind. In Venezuela übernimmt der Staat für die nächsten sechs Monate die Gehälter der Angestellten kleiner und mittlerer Betriebe in der Privatwirtschaft. Selbst in Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro lautstark ein Ende der (Selbst-)Isolation und Rückkehr zur „Normalität“ fordert und durch öffentliche Auftritte selbst große Menschenansammlungen herbeiführt, stechen einige Maßnahmen positiv hervor, z.B. ein dreimonatiger Notzuschuss von 600 R$ (ca.104 Euro) für Arbeiter*innen im informellen Sektor, die weder Sozial- noch Rentenleistungen beziehen, der kürzlich durch den Nationalkongress verabschiedet wurde. Das lässt zumindest hoffen auf mehr soziale Gerechtigkeit. 

Ein Hoffnungsschimmer

Angesichts einer Welt voller Unsicherheiten, die das Zusammenleben im städtischen Raum akut betreffen, lässt die Coronakrise das eben noch Undenkbare möglich erscheinen: Vielleicht gibt es doch eine gemeinsame Welt, die, wie Hannah Arendt ersehnt, uns über das Private hinausdenken lässt. Schließlich ist das, was wir gemeinsam erschaffen und verwirklichen, auch das, was über unser (kurzes) menschliches Dasein hinausweist. [ix]

Auch der Philosoph Slavoj Žižek will im Coronavirus eine Art “subversive Kraft” entdecken. Er glaubt an die Möglichkeit, dass sich nun auch „ein ganz anderes, wohltuendes Virus ausbreiten könnte, das mit der Vorstellung einer alternativen Gesellschaft ansteckt, einer Weltgesellschaft, die über nationalstaatliches Denken hinausweist, und die sich in neuen Formen globaler Solidarität und Kooperation ausdrückt.“[x]

Arendts und Žižeks Hoffnungen sollten jedoch nicht die Herausforderung verdecken, die es mit sich bringt, Stadt als einen öffentlichen Raum zu denken und zu leben; einen Raum, der in eine gemeinsame Zukunft weist und uns überdauert. Als Gemeinschaft sind wir mehr als bloß Individuen, und Vielfalt ist ein elementarer Bestandteil einer gemeinsamen Welt. Und was kann Stadt anderes sein als eine gemeinsame Welt? Diese Frage stellt sich zweifellos als raumbezogene.

Autor*inneninfo:
Robertha Barros ist Stadtplanerin und Doktorandin im Fachbereich Entwicklung und Umwelt an der brasilianischen Bundesuniversität Sergipe. Sie ist derzeit als Gastwissenschaftlerin an der Technischen Universität Berlin und am SFB 1265. 
Paulo Victor Melo ist Journalist. Er hat im Bereich Kommunikation und zeitgenössischer Kultur an der Universität Bahia promoviert.


[i] BOFF, Leonardo. ‘Coronavírus: o perfeito desastre para o capitalismo de desastre’. 2020, https://leonardoboff.wordpress.com/

[ii] AUGÉ, Marc. ‘Le temps em ruines.’ Paris: Galilée, 2003.

[iii] Covid-19: ‚Fiocruz‘ fordert Hilfe für gefährdete Bevölkerung, März 2020: https://portal.fiocruz.br/noticia/covid-19-fiocruz-lanca-acoes-de-apoio-populacoes-vulneraveis

[iv] KNOBLAUCH, Hubert; LÖW Martina. 2020. The Re-Figuration of Spaces and Refigured Modernity – Concept and Diagnosis.

[v] KNOBLAUCH, Hubert; LÖW, Martina. Dichotopie. Refiguration von Räumen in Zeiten der Pandemie, 2020. https://www.sfb1265.de/blog/dichotopie-refiguration-von-raeumen-in-zeiten-der-pandemie/

[vi] SANTOS, Milton. ‘O espaço do cidadão.’ São Paulo: Nobel, 2000. / SANTOS, Milton. ‘Por uma outra globalização.’ São Paulo: Record, 2004.

[vii] DAVIS, Mike. ‘Planeta Favela.’ São Paulo: Boitempo, 2006. In ‚Planeta Favela‘ (2006) [dt. ‚Planet der Slums‘] verweist Davis auf Daten aus dem im Jahr 2003 veröffentlichten Bericht ‚The Challenge of Slum’s‘ der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (UN-Habitat). Demnach wächst die Bevölkerung in Slums weltweit um 25 Millionen Menschen jährlich, die Gesamtzahl wurde damals auf 921 Millionen für 2001 geschätzt und auf 1 Milliarde im Jahr 2005.

[viii] KLEIN, Naomi. ‘Coronavírus: como vencer o capitalismo que se abastece de desastres?’ 2020 – https://theintercept.com/2020/03/21/coronavirus-capitalismo-de-desastre/

[ix] ARENDT, Hannah. ‘A condição humana.’ Chicago: University of Chicago Press, 1985.

[x] ZIZEK, Slavoj. ‘O poder subversivo do coronavirus’, 2020 – https://outraspalavras.net/crise-civilizatoria/zizek-ve-o-poder-subversivo-do-coronavirus/