Blog

„Bist du auch diesseits?“

6. Januar 2023

SFB 1265 Wissenschaftler Sung Un Gang im Gespräch mit Brenda Strohmaier

In der südkoreanischen Metropole Seoul drängen queere Menschen seit gut zwei Jahrzehnten immer stärker in die Öffentlichkeit. So hat es das Seoul Queer Culture Festival gegen etliche Widerstände auf den Rathausvorplatz geschafft, und im Stadtteil Mapo fand 2022 die erste Nachbarschafts-Pride-Veranstaltungen statt. Für solche raumgreifenden Veränderungen der LGBTQ-Bewegung interessiert sich Sung Un Gang, Mitarbeiter im Teilprojekt B03. Dabei geht es ihm nicht nur um bereits gut dokumentierte Prozesse, sondern er will auch wissen, wie queere Menschen durch ganz alltägliche Handlungen neue Räume schaffen und alte neu codieren.

Brenda Strohmaier: Wie trägt ein räumlicher Ansatz zur Erforschung von queerem Leben bei?

Sung Un Gang: Queeres Streben hat häufig damit zu tun, eigene Orte zu kreieren. Das rührt daher, dass man als queerer Mensch im alltäglichen Kontext Ausschluss erlebt, nicht auf Akzeptanz stößt oder sich nicht traut, das auszuleben. Und dann entsteht Verlangen nach Vernetzung, nach eigenen Räumen. Ich meine damit nicht nur Ausgehviertel wie Jongno und Itaewon oder das erste queere Wohnprojekt in Seoul. Unser Raumbegriff ist viel breiter gefasst, da ja viele gesellschaftliche Aushandlungsprozesse im Alltäglichen passieren, auf der Straße oder im Supermarkt.

BS: Hast du ein Beispiel dafür?

SUG: Ich war im Sommer für einen Monat in Seoul, meine erste Forschungsreise für dieses Projekt. Ich habe dort das Seoul Queer Culture Festival besucht, das erstmals seit Corona wieder stattfand. Zwischendurch wollte ich mich kurz im Hotel umziehen. Ich hatte viele bunte Dinge von der Pride mitgebracht, eine regenbogenfarbene Tüte, ein Armband, Sticker. Als ich damit durch die Lobby ging, haben mich die Leute angestarrt, mich wahrscheinlich in Verbindung mit den Nachrichten über die Veranstaltung gebracht. Solche kleinen Momente interessieren mich.

BS: Noch mal zur großen, gut sichtbaren Bewegung: Ein LGBQT-Festival vor dem Rathaus, das wirkt wie ein Sieg. Oder trügt der Eindruck?

SUG: Seit 2015 wird das Festival dort gefeiert und wurde seither immer populärer, aber die Seouler Stadtregierung ist nicht so angetan davon. Es gibt außerdem großen Widerstand von Christen, die immer zur selben Zeit irgendwelche Veranstaltungen beantragen, um den Ort zu blockieren. So hat die Stadtverwaltung den Platz dieses Jahr nicht wie beantragt für sechs Tage, sondern nur für einen Tag für das Queer Festival freigegeben. Der Platz war an diesem einen Tag dann umstellt von Polizei und umgeben von Gegendemos, die das Festival mit Musik und Reden beschallt haben.

BS: Früher war der Ausdruck „vom anderen Ufer sein“ im Deutschen ein gängiges Synonym für Homosexualität. Gibt es im Koreanischen eine vergleichbare räumliche Dimension in der Sprache?

SUG: Ja. Wenn du eine Zeitlang in einem Szene-Viertel unterwegs bist und mit einem einen schwulen Mann ins Gespräch kommst, kann es sein, dass er dich fragt, ob du auch itzok bist – also diesseits. In einem anderen Raum kann die Frage alles und nichts heißen, aber in diesem Kontext ist klar, was damit gemeint ist. Es gibt aber noch andere Worte für queere Identität. Zum Beispiel Iban, das ist abgeleitet von Ilban, das eigentlich allgemein bedeutet. Il klingt auch wie Nummer eins. Darauf basierend hat man das Wort Iban erfunden, das ist Nummer zwei, das ist etwas anderes, also hier sind die „Allgemeinen“ und da, im Diesseits, die anderen.

BS: In der ersten Projektphase ging es um die koreanische Smartcity Songdo. Inwiefern spielt in Phase Zwei Wohnungsbaupolitik eine Rolle?

SUG: In Korea besteht seit Jahrzehnten ein Wohnungsverteilungsproblem, und das betrifft queere Menschen besonders. Die Wohnungspolitik und damit die Vergabe ist sehr heteronormativ konzipiert. Und wenn du zum Beispiel als Berufsanfänger ein Bausparkonto anlegen möchtest, machst du das entweder als Individuum oder als frisch verheiratetes Paar. Aber es gibt ja keine gleichgeschlechtliche Ehe in Korea. So kenne ich Frauen, die seit Jahrzehnten zusammen sind, aber nie diese Möglichkeiten hatten. Und weil die Wohnungspreise so stark gestiegen sind in den letzten Jahrzehnten, werden queere Menschen immer mehr aus dem Stadtzentrum verdrängt. Es gibt sogar eine spezifische Auswanderungsroute innerhalb Seouls, nämlich vom Stadtbezirk Mapo zum weiter außerhalb gelegenen Viertel Eunpyoung. Und das ist eine Bewegung, die nirgendwo dokumentiert ist und bald vergessen sein wird, aber genau das finde ich spannend.

BS: Welche Erkenntnisse bringt denn solche Alltagsgeschichte?

SUG: Ich finde es wichtig, unser Verständnis von Geschichte zu hinterfragen. Wir hören immer von großen Namen, Politikern, Heldinnen, dadurch blenden wir viel aus. Im koreanischen Kontext habe ich bisher sehr wenig von queerer Geschichte gelesen. Wenn überhaupt, werden die queeren Menschen immer als Ausnahmen, als etwas Krasses, Ungewöhnliches behandelt. Aber größtenteils leben wir ja unseren Alltag. Und je mehr man darüber weiß, je näher wir an dieser Art Geschichte sind, desto besser können wir uns Menschen vorstellen.

BS: Inwiefern untersuchst du auch digitale Räume? Die dürften doch gerade im Hightechland Südkorea eine wichtige Rolle spielen?

SUG: In Korea ist es sogar so, dass erst durch das Internet queere Proteste/Bewegungen sichtbarer geworden sind. In den 90ern, als man sich noch über Modem einwählte, entstanden gleich schon queere Chaträume. Und das hat dazu geführt, dass diese queeren Bewegungen sich vernetzten und aus dem Digitalen auf die Straße gingen. Ich werde bei meinen nächsten Besuchen in Seoul noch mehr Interviews führen, in denen es auch darum geht, wie genau queere Menschen digitale Räume in ihrem Alltag kreieren und nutzen.

BS: Zu deiner Forschungsarbeit gehört auch, schwul auszugehen. Klingt nach einem Traumjob für einen homosexuellen Forscher.

SUG: Ja, klingt so. Aber bei der Feldforschung bin ich ganz schön angespannt, will alles genau beobachten, notieren, hinterfragen, analysieren und stets nach der richtigen Person suchen, mit der ich Gespräche führen kann. Außerdem: Ich bin zwar schwul, aber kein Mensch, der gerne in Bars oder Clubs geht. Ich bin seit langem verpartnert, trage einen Ring an der Hand, und das sind doch eher Orte für jüngere Singles. Ich muss in Korea immer wieder erklären, wie das überhaupt funktioniert mit der Verpartnerung in Deutschland. Aber die Feldstudien sind natürlich eine schöne Aufgabe. Ich empfinde es als Privileg, dort zu forschen, wo die Menschen so lange und hart für ihre Rechte kämpfen.


Kurzbios:

Sung Un Gang hat an der Universität Köln in Medien- und Theaterwissenschaften promoviert. In seinem Interviewpodcast „Bin ich süßsauer“ unterhält er sich mit queeren asiatischen Menschen, die in Deutschland leben.

Brenda Strohmaier ist Journalistin, promovierte Stadtsoziologin und freie Kuratorin an der Berliner Bildungsinstitution Urania.